Génèviève Eugenie de Clary

Tagebuch zum Thema Erinnerung

von  ThalayaBlackwing

Mein Name ist Génèviève Eugenie de Clary. Ich wurde am achtundzwanzigsten Tage des sechsten Monats im Jahre 1845 geboren und starb in der achtundzwanzigsten Nacht des letzten Monats fünfundzwanzig Jahre später.

*

Ich wurde in dieser Nacht neu geboren.

*

Dies ist meine Geschichte

Ich erblickte mit dem Sonnenaufgang eines der heißesten Tage des Jahre das Licht der Welt und schrie mein Elend, aus der Wärme des Leibes meiner Mutter entrissen zu sein, in diese neue, kalte Welt hinaus. Ich war das sechste Kind meiner Eltern und die dritte Tochter.

Meine Mutter, Clarissa Katharina de Clary, muss eine wunderschöne Frau gewesen sein, den Bildern, die von ihr im Haus hingen, nach zu urteilen. Doch ich hatte nicht das Glück, sie kennenzulernen. Sie starb, um mir das Leben zu schenken.


Ist es nicht faszinierend, dass mein Leben als Mensch mit dem Tod eines anderen begann? Der Tod ist mein ständiger Begleiter. Das jedoch werde ich erst später verstehen.


Nach Außen hin wuchs ich als die behütete, geliebte jüngste Tochter eines einflussreichen Edeltuchhändlers auf. In Wirklichkeit aber war ich ungeliebt. Mein Vater, Jean Philip de Clary, gab mir die Schuld am Tod seiner Frau, meiner Mutter.

Ich möchte gern glauben, dass er sie wirklich geliebt hat und ihr Verlust ihn seiner Sinne beraubte, aber dies macht für mich keinen Unterschied. Jetzt jedenfalls nicht mehr. Alles, was ich mir von ihm gewünscht hatte, war seine Liebe und diese enthielt er mir vor.


Bis zu meinem sechsten Geburtstag habe ich die Zeit in ständiger Aufsicht meiner Amme verbracht. Sie war eine herzensgute Frau, aber sie konnte mir weder meiner Mutter ersetzen, noch die Liebe meines Vaters geben. Sie starb an meinem Geburtstag und durch ihren Tod war mein Vater wieder an den Tod seiner Frau erinnert. War es Zufall, dass sie am selben Tage starb? Wieder kam der Tod zu mir und veränderte mein Leben. Liebe erfuhr ich seither nicht mehr.

Statt einer Puppe, eines neuen Kleides oder eines Teddybären erhielt ich an diesem Tag von meinem Vater nur Schläge. Es war das erste Mal, dass er seine Hand gegen mich erhob. Das erste Mal überhaupt, dass er eine seiner Töchter schlug. Seine Schläge waren das Wasser, dass einen kleinen Samen in meinem Herzen keimen ließ. Ein kleiner Samen, der über die Jahre, die vergingen, weiter wachsen würde. Ich begann, ganz langsam, ihn zu hassen.

Wenn der Tag anbrach, floh ich vor meinem Vater zu den Kindern unserer Nachbarn. Ich spielte mit ihnen und vergaß. Doch jeden Abend, wenn die Eltern meine Freunde nach Hause riefen, spürte ich den Schmerz wieder und wünschte mir nichts mehr, als dass mein Vater mich auch so lieben könnte und manchmal wünsche ich mir sogar, dass die Eltern meiner Freunde auch meine Eltern seien. Ich schämte mich nicht für diesen Gedanken, ich fürchtete mich auch nicht vor Gottes Strafe. Ich hatte einzig und allein Angst davor, dass es der Priester bei der wöchentlichen Beichte erführe.


So wuchs ich heran. Ich sah die Liebe und Zuneigung der anderen Eltern ihren Kindern gegenüber und blieb selbst immer außen vor.

Wenn Vater jedoch verreist war und ich mit meinen Geschwistern allein zurückblieb, lebte ich auf. Ich vermochte es zu lachen und mit einem Lächeln nach Haus zu kommen. Meine Geschwister gaben mir das Gefühl, zur Familie zu gehören. Sie warfen mir nicht vor, ich hätte ihnen die Mutter genommen. Nein, sie schenkten mir ihr Mitleid, weil ich Mutter nie kennengelernt hatte. Ich fühlte mich fast normal. Fast, denn ich begann mir heimlich zu nehmen, was ich als mein Recht als Tochter empfand. Ich stahl am Anfang einige der Pralinen aus Vaters Vorrat. Er genoss es sie abends beim Feuer zu naschen und belohnte seine Kinder, in dem er ihnen manchmal etwas abgab. Ich wurde nie so belohnt, und so nahm ich es mir selbst. Vater bemerkte nichts.

Vater brachte immer Geschenke mit, wenn er von seinen Reisen zurückkehrte. Für jedes seiner Kinder hatte er etwas dabei. Feines Tuch oder Schmuck für meine Schwestern und Bücher, Rechenschieber, abenteuerliche Geschichten für meine Brüder. Nur ich bekam nichts. Und meine Geschwister schienen das nicht zu bemerken oder bemerken zu wollen. Doch blickte mich nie einer von ihnen an, und waren in meiner Gegenwart schweigsam. Ich gewöhnte mich daran, hoffte nicht mehr auf Geschenke und weinte nicht ob der Zurückweisung. Ich beschloss jedesmal, wenn Vater mich ignorierte, mir meinen Teil selbst zu nehmen. Ich wuchs heran und in meinem Herzen die dunkle Blume.


Während meine Geschwister langsam erwachsen wurden, war ich es bereits. Mein ältester Bruder lernte das Handwerk unseres Vaters, mein zweiter Bruder wurde Tuchmacher. Meine älteste Schwester heiratete einen befreundeten Händlersohn und bekam bald darauf ihr erstes Kind. Alles verlief so, wie es sein sollte.


Das einzige, was mein Vater an mir mochte, war die Musik. Ich hatte das größte Talent in unserer Familie. Wäre ich in einer anderen Zeit und einer anderen Familie geboren worden, hätte ich damit wohl mein Auskommen gefunden. Zeit und Ort verhinderten dies. Spielte ich auf Klavier oder Harfe für die Familie beim abendlichen Zusammensein, erreichte ich auch Vaters Herz und bekam durch die Musik ein wenig von der Liebe und Anerkennung meines Vaters, die ich so dringend brauchte.


Eines Abends in meinem fünfzehnten Lebensjahre, ich musizierte erneut zur Unterhaltung meiner Familie, trat meine zweite Schwester, Gabrièlle, auf Vater zu. Sie bat ihn um die Erlaubnis nach Frankreich gehen zu dürfen, um dort zu studieren. Sie war von uns die klügste und sie wollte Medizin studieren, Ärztin werden. Vater war nicht glücklich über den Wunsch seiner Tochter, aber willigte ein, nachdem sie ihm versprochen hatte, nach dem Studium zurückzukehren. Wie glücklich er sie damit gemacht hatte, konnte ich ihrem Gesicht entnehmen. Und ich erkannte die Liebe, die mein Vater für sie empfand, in der Entscheidung, sie gehen zu lassen. Sie hatte eine Freiheit erhalten, die Frauen in unserer Zeit selten bis gar nicht erfuhren.

Doch mit ihrer Freiheit, schloss sich die Tür meines Käfigs. Der Haushalt, den sie bis dahin geführt hatte, war nun meine Aufgabe geworden. Ich, die ihre Zeit so gut es ging außerhalb des Hauses verbracht hatte, um Vater nicht öfter begegnen zu müssen, als notwendig, war nur fast wörtlich ans Haus gekettet. Es war immer so viel zu tun, und Vaters Anwesenheit und Kälte schnürte mir die Brust ein. Alles, was schief lief, war meine Schuld und ich erhielt Schläge und bissige Kommentare, wie 'Gabrièlle war dazu schon in der Lage als sie acht war und du bringst es nicht einmal mit vierzehn Sommern fertig.' oder 'Hätte Gabrièlle dir etwas von ihrer Intelligenz abgegeben, dann wäre sie noch hier und du nicht eine solche Schande für meine Familie'. Wusste er, wie sehr er mich damit verletzte? Warum konnte er mich nicht genauso lieben, wie meine Geschwister? Eine Frage, auf die ich niemals eine Antwort finden sollte.

Lief etwas gut, war es nicht meine gute Arbeit. Es war der Koch, die Dienstmagd oder der Leibdiener meines Vaters, die das Lob erhielten, nicht ich.


So vergingen weitere Jahre. Ich floh mehr und mehr in die Musik. Sie war mir stets treu und der einzige Freund, der mir blieb. Sie gab mir die einzige Freiheit, die ich kannte, denn mein Körper war an das Haus und den Willen meines Vaters gebunden, mein Geist jedoch war frei. Die Nachbarskinder, mit denen ich immer gespielt hatte, zu denen ich immer geflohen war, wurden auch erwachsen erwachsen, erlernten Berufe und gründeten Familien. Doch ich hatte noch etwas, dass ich verborgen hielt. Ich wollte auch endlich einmal auf einen Tanz, wie es alle jungen Männer und Frauen zu tun pflegten. Aber woher sollte ich ein Kleid nehmen? Ich bekam doch stets nur die alten, abgetragenen Kleider meiner Schwestern. Ich wusste , dadurch, dass ich den Haushalt zu führen hatte, wo Vater das Haushaltsgeld aufbewahrte. Immer, wenn er nicht im Haus war, stahl ich etwas davon und verwahrte es. Davon ließ ich mir ein Kleid nähen. Es war wunderschön. Und ich genoss es, meinen Vater betrogen zu haben, auch wenn ich froh war, dass er es nicht mitbekam. Ich fürchtete mich vor seinen Schlägen.


Als Vater wieder einmal verreist war, ging ich zum ersten Mal zu einem öffentlichen Tanz junger Männer und Frauen. Ich werde diesen Abend nie vergessen. Ich trug zum ersten Mal mein Kleid. Und es brachte mir eine Genugtuung. Die Musik war fröhlich, die Mädchen bildhübsch und die Männer elegant und charmant. Ich erinnere mich genau, es war die Nacht zum ersten Tage des Marienmonats im Jahre 1863. Ich war noch immer nicht verheiratet, noch nicht einmal einem Mann versprochen.

Ich glaube, es lag daran, dass Vater keinen Gedanken an mich verschwenden wollte. Hätte er nach einem geeigneten Ehegatten für mich Ausschau gehalten, so hätte er mir auch eine Existenzberechtigung aussprechen müssen. Mich zu vergessen, war sicher bequemer und brachte mir weitere Schmach ein.

Doch an diesem Abend tanzte ich und fühlte mich zum ersten Mal wie eine Frau. Ich vergaß alles, was zu Hause war. Die Männer standen Schlange, um mit mir zu tanzen und die Frauen baten mich wieder und wieder zu singen. Ich tat beides gern und gehörte endlich dazu, wenn auch nur für diese eine Nacht.

Besonders fiel mir ein junger Mann auf. Er war groß gewachsen und sein Äußeres zeugte von gutem Stande. Doch das bemerkenswerteste an ihm waren seine strahlend blauen Augen, die all zu oft auf mir ruhten. Wir tanzten und unterhielten uns und so erfuhr ich, dass auch er der Musik verfallen war. Ein Musiker, der verstehen konnte, was ich fühlte. Er verriet mir auch, dass er bald beabsichtigte, nach Paris zu gehen, um dort die Musik an der Universität zu studieren. Wie beneidete ich ihn dafür! Ich wollte auch nach Paris. Es war nicht nur die Stadt der Kunst und Wissenschaft, es war auch die Heimat meines Blutes. Mein Urgroßvater kam aus Paris. Er war vor der Französischen Revolution nach Nienburg geflohen. Und als er dort eine Frau fand, die ihm gefiel, ließ er sich dort nieder um nie wieder fortzugehen. Seine Sehnsucht, so hieß es, habe ihn schließlich in den Tod getrieben. Sein Sohn selbst und auch sein Enkelsohn, mein Vater, hatten keinerlei Sehnsucht nach der alten Heimat. Doch in meinen Adern war das Blut wieder stark, so wie die Sehnsucht. Und hier stand ein Mann, der mir vielleicht eine Möglichkeit bot, der Sehnsucht meiner Ahnen nachzukommen. Marcèal de Puniet war sein Name. Und in dieser Nacht verliebte ich mich. Wir verließen gemeinsam den Tanz und spazierten durch die nächtlichen Gärten. Wir sprachen über Musik und über die Nacht. Denn wir sahen die Nacht nicht als Schrecken, sondern als große Künstlerin. Ihr Genie blieb denen verborgen, die allein im Licht der Sonne wandelten.

Als er sich von mir verabschiedete, versprach er mir, dass wir uns wiedersehen würden. Bald.

Oh wie glücklich war ich in dieser Nacht. Wie glücklich auch in den folgenden Nächten, da er mich besuchte und mich ausführte zu Speis' und Tanz.

Es störte mich nicht, als Vater zurückkehrte und mir kein Geschenk mitbrachte. Ich hatte mir in seiner Abwesenheit das schönste Geschenk selbst gemacht. Es war das erste Mal, dass ich mich nicht zurückgewiesen fühlte, denn ich wollte seine Zuneigung nicht mehr. Auch wusste ich bereits, dass bald Gabrièlle zurückkehren würde, wie sie es versprochen hatte. Und dann, so dachte ich, wäre ich frei, zu gehen und zu heiraten. Marcèal zu heiraten und mit ihm nach Paris zu gehen. Ich träumte von einer glücklichen Zukunft voller Zuneigung und Musik.

Ich bat Marcèal am Abend, da meine Schwester zurückkehrte, meinen Vater um meine Hand zu ersuchen. Ich hoffte, dass er ob der Rückkehr Gabrièlles ausreichend guter Stimmung sein würde, um eine solche Anfrage nicht abzulehnen.

Ich hoffte,
…. vergebens.

Marcèal kam, fragte und erhielt eine mehr als unhöfliche Ablehnung. Es brach mir das Herz und in dieser Nacht war der Keim des Hasses kein Keim mehr, sondern eine dunkle Blume in voller Blüte. Ich floh aus dem Haus meines Vaters und floh zu dem kleinen Teich, den Marcèal und ich zu unserem Heiligtum gemacht hatten. Er war umstanden von seltenen Blumen, die nur in der Nacht blühten und ihren lieblichen Duft nur dem freien Geist der Nacht schenkten.

Wie ich es hoffte, fand mich Marcèal an unserem Ort. Und in dieser Nacht hasste ich meinen Vater so sehr, dass ich ihm jeden Plan zunichte machen wollte, den er je für meine Heirat hätte haben können. Ich wollte Marcèal und nur ihn und in dieser Nacht gab ich mich ihm hin. Wenn schon nicht vor Gesetz und Kirche so wollte ich wenigstens vor ihm und der Nacht sein sein. Es war die achtundzwanzigsten Nacht im sechsten Monat des Jahres 1863, mein Geburtstag. Und wieder war der Tod an meiner Seite. Nicht der physische. Doch es starb das gehorsame Kind, dass um Anerkennung und Zuneigung hungerte mit meiner Unschuld.


Wir trafen uns weiter, heimlich, an unserem Ort. Doch ich spürte schnell, dass unsere Zweisamkeit nicht ohne Folgen geblieben war. In meinem Leib wuchs der Spross unserer Liebe, sein Kind.
Vor meinem Vater hätte ich es wohl lange verborgen halten können, doch meine Schwester, studiert in der Medizin, bemerkte schnell meine morgendliche Übelkeit und wusste, was es zu bedeuten hatte. Sie war es schließlich, die mich an meinen Vater verriet. Sie war es, die im Endeffekt den Tod meiner Liebe heraufbeschwor. Hasse ich sie dafür? Nein, denn sie tat, was sie für richtig hielt.
Vaters Strafe fiel anders aus, als ich geglaubt hatte, denn Vater schlug mich nicht. Er wollte mich anders, grausamer bestrafen. Er klagte öffentlich Marcèal der Vergewaltigung seiner jungfräulichen Tochter an. Und der Beweis meiner Schwangerschaft war Beweis genug. Meiner Stimme schenkte man kein Gehör. Man schrieb es der Hysterie einer schwangeren Frau zu.

Marcèal wurde hingerichtet und mein Vater zwang mich, dabei zuzusehen.


Ich selbst wurde krank an Körper und Herzen und die Ärzte hatten wenig Hoffnung für mich und mein Kind. Vater kümmerte das Kind wenig. Doch wenn ich starb, würde er die Kontrolle über mich verlieren. Ich musste gesund werden.
Wollte ich sterben? Für eine kurze Zeit sicher. Ich wollte meiner Lieber folgen, odch als mein Geist nicht mehr von Trauer vernebelt war, entschied ich anders. Ich wollte jetzt erst richtig leben, für mich und Marcèal. Ich genas. Ich wurde wieder gesund. Und nur wenige Zeit später war es, da ich einen gesunden Jungen gebar. Ich war kräftig genug, um mich gegen meinen Vater durchzusetzen und ihm den Namen seines Vaters zu geben. Doch was aus Marcèal wurde, weiß ich nicht zu berichten. Er wurde mir weggenommen. Und ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Ich vermisse ihn, mein Kind. Ein Spross der Liebe, meiner einzigen, menschlichen Liebe.

Und diesmal gab ich mich nicht wieder der Verzweiflung hin, ich schmiedete einen Plan. Ich wollte fliehen, nach Paris, für mich Marcèal und unser Kind. Egal, was es mich kosten würde. Ich wusste, dass ich eine gute Musikerin war, und so stürzte ich mich in die Musik, flüchtete in die Klänge. Ich übte, um besser zu werden und zu vergessen und ich wollte Vaters Geld mitnehmen.


Ich war so vertieft in meine eigenen Fluchtpläne, dass ich nicht mitbekam, mit wem sich mein Vater in seinem Hause traf.

Es war am Nachmittag des vierten Tages im Monat November im Jahre 1868, als mein Vater mich zu sich rief. Neben ihm saß ein Mann. Ich habe in meinem ganzen Leben nie einen so hässlichen Mann gesehen. Er war entstellt, vermutlich von einem Feuer. Sein Gesicht war vernarbt und er blickte mich, nein meinen Körper, lüstern an.

Ich wandte meinen Blick ab von diesem Mann und richtete ihn auf meinen Vater. Ich sah eine Bösartigkeit in seinem Blick, der mein Herz beinahe zum Stocken brachte. Es war nur ein kurzer Moment, und wenn ich ihn nicht gekannt hätte, hätte ich mir wohl einreden können, mir dies nur eingebildet zu haben. Er stellte mir den Mann an seiner Seite vor. Joseph Schneider. Er wäre bereit ohne Entschädigung das beschädigte Material zu nehmen und mich zu ehelichen. Er hatte bereits drei Frauen zu Grabe getragen, doch war bisher ohne Nachkommenschaft. Durch meine uneheliche Schwangerschaft hatte ich jedoch bereits bewiesen, dass ich fruchtbar war und somit für einen Mann wie ihn wertvoll genug, um über den Makel meiner verlorenen Jungfräulichkeit hinwegzusehen.

Ich sah meinen Vater an. Wie konnte er es wagen, mich so einem Mann zu versprechen! Und ich sah die Häme. Er wollte mich erneut bestrafen und verletzen. Und ich konnte nichts dagegen tun. Nichts... Doch... Ich musste fliehen. Und zwar so schnell wie möglich.

Ich war stolz auf mich, dass ich meine Haltung bewahrte, obwohl es in mir kochte und ich am liebsten geschrien hätte. Ich hatte viele Jahre zeit gehabt, dies zu üben. Ich wollte meinem Vater nicht die Genugtuung geben, mich aus der Fassung zu bringen. Stattdessen bedankte ich mich bei Vater, dass er mir einen so passenden Gemahl ausgewählt hatte und fragte, wann denn die Hochzeit geplant sei. Ich erschrak als man mir mitteilte, dass sie in einer Jahresfrist stattfinden sollte. Nur noch ein Jahr! Daraufhin verabschiedete ich mich mit der Begründung, dass ein Jahr eine solch kurze Frist sei und ich nun umgehend mit den Planungen beginnen müsste. Und verschwand.

In meinem Zimmer angelangt, brach ich zusammen. Ich weinte und gab mich meiner Verzweiflung hin. Mein versprochener Gatte hatte es klar gemacht, dass er Musik für eine Frau als Zeitverschwendung betrachtete und dass ich, sobald wir vermählt wären, genügend Aufgaben haben würde, und einem solchen Zeitvertreib nicht mehr bedurfte. Das also war die Strafe meines Vaters. Er nahm mir das einzige, was mir je etwas bedeutete. Erst Marcèal und nun auch noch meine Musik. Wie ich ihn hasste.

Noch in dieser Nacht packte ich meine Sachen, es gelang mir nicht, die Truhe mit Vaters Geld zu erreiche, aber ich war nicht dumm gewesen in der abgelaufenen Zeit. Ich hatte mir, wie es Gewohnheit war immer wieder etwas aus der Truhe genommen. Es betrübte mein Herz, meine geliebten Instrumente zurückzulassen. Aber ich musste gehen, jetzt. Doch ich kam nicht einmal bis zur Tür. Der Diener meines Vaters wartete dort und verhinderte meine Flucht. Jede Nacht, stand er dort und am Tage ein anderer. Ich war verzweifelt. Was sollte ich tun?

Das Jahr verging, meine Verzweiflung wuchs und obwohl ich mich sehnte zu sterben, blieb mein Körper stark und gesund. Nicht jedoch der, meines versprochenen Gatten. Zwei Tage vor der Trauung erkrankte er so schwer, dass es unmöglich war, die Hochzeit zu vollziehen. Planungen wurden abgebrochen und die Hochzeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Sie sollte nun am dritten Jänner des Jahres 1871 stattfinden.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Ich hatte meine Fluchtversuche längst aufgegeben. Wie sollte ich auch gegen meinen Vater bestehen? Und so kam es, dass mein Vater meiner Schwester erlaubte, mich am achtundzwanzigsten Tage im Monat Dezember mit auf einen Tanz zu nehmen. Ich war ihr dankbar. Ich tanzte und wollte einfach nur den Horror vergessen, der mir in nur sechs Tagen bevorstand.

Und erhitzt wie ich war, zog ich mich für eine Pause zurück. Ich hatte versprechen müssen, das Haus, in dem die Gesellschaft stattfand, nicht zu verlassen. Und ich wollte meiner Schwester keinen Ärger bereiten, wenn ich mich gegen diese Auflage auflehnte. So konnte ich nicht hinaus in die Gärten. Aber es gab ein Separee und es war leer. Ich ließ mich auf der Polsterbank nieder und schöpfte Atem. Nur gedämpft drang die Musik in dieses Zimmer. Doch lange sollte ich nicht hier allein bleiben. Und dies sollte mein Glück sein.


Bald ging die Tür auf und es traten zwei Personen ein. Eine Frau, die ich noch nie zuvor in unserer Stadt gesehen hatte. Sie wurde begleitet von einem Mann in sonderbarer Kleidung. Kleidung, sonderbar und vertraut. Doch sie gewannen mich sofort, als sie sprachen. Sie sprachen mit einem Akzent, der mir nur all zu bekannt war. Ich selbst färbte meine Sprache in ähnlicher Weise. Es war Deutsch, doch mein Blut jubilierte. Sie sprachen mit französischem Akzent.


Ich muss noch immer lächeln, wenn ich daran denke. Ich wusste es noch nicht, aber diese beiden würden meine Rettung sein. Ich bedauere es zutiefst, dass die Erinnerung an jene Nacht so verschwommen ist. Oder sollte ich froh darüber sein? In jeder Nacht spürte ich Zuneigung und Frucht, Hingabe, Angst und Liebe.

Ich trank von deren Wein und fand ihn abscheulich. Ich konnte es ja nicht wissen.

Ich erzählte ihnen von mir, meiner Leidenschaft für Musik, meiner Sehnsucht nach Paris und Frankreich, die ich mir nicht erklären konnte, da ich dort noch nie war. Aber das Blut meiner sterblichen Vorfahren rief mich nach Hause. Ich klagte aber auch über das Schicksal, dass mir einen Vater gebracht hatte, der mich mit einem Mann vermählen wollte, der so gänzlich gegensätzlich war.

Dann sah ich in seine Augen. Armand war sein Name. Und als ich in seine Augen blickte, liebte ich ihn und wollte ich von ihm genau so geliebt werden, wie ich ihn liebte. Ich wollte alles für ihn tun.´, nur um zu beweisen, dass ich ihn liebte. Und er gab mir eine Chance. Ich sollte ihm den Kopf meines Verlobten bringen. Warum? Das vermag ich nicht zu sagen, doch weder heute noch damals habe ich es in Frage gestellt.Ffreudig bin ich losgezogen, ihm den Kopf zu bringen. Ich wusste nicht wie, ich wusste nur, dass ich es um jeden Preis schaffen wollte. Und ich möchte ehrlich sein. Ich erinnere mich nicht mehr, wie es mir gelang, doch ich kehrte bald darauf mit dem Kopf Joseph Schneiders zu Armand und Garance zurück. An diesem Tage war ich es selbst, die den Tod brachte und im Nachhinein war dieser Tod nötig, um mich neu zu schaffen. Etwas in mir zerbrach mit der Tat. Und wieder war der Tod an meiner Seite, als sich mein Leben grundlegend ändern sollte.

Sie verzogen das Gesicht vor Abscheu als sie in das Gesicht meines nun toten Verlobten blickten. Und war es Mitgefühl oder Verständnis, was ich in ihren Gesichtern sah? Verständnis, warum ich diesen Mann nicht ehelichen wollte? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, vielleicht wollte ich Zustimmung erkennen, die mich in meiner Ablehnung bestärkte. Wie ich bereits erwähnte, der Abend ist ein wenig verschwommen. Es war einfach zu viel.

Ich konnte meinen Blick an diesem Abend nicht von den Augen Armands abwenden. Und doch , während ich mich so sehnsüchtig zu Armand hingezogen fühlte, fürchtete ich mich vor Garance. Und war hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, bei Armand zu sein und vor Garance zu fliehen.

Doch letztendlich hielten mich Armands Augen fest. Diese Augen. Hätte mir jemand an diesem Abend gesagt, dass ich in die Augen eines Monsters blicke, hätte ich diesen Worten keinen Glauben geschenkt. Ich sah in ihnen Zuneigung. Ich spürte einen Knoten in meiner Brust, Angst, dass er sich abwenden könnte, Angst, dass auch von ihm nur Ablehnung für mich übrig blieb. Ich wollte es verhindern. Und dann erzählten sie mir, was sie waren. Ich verstand es nicht, noch nicht. Wie hätte ich es auch zu diesem Zeitpunkt verstehen können?

Ich sah in Armands Augen, als er mich aufforderte, mir den letzten Sonnenaufgang, den ich gesehen habe, in Erinnerung zu rufen. Er sagte mir, dass es der letzte gewesen sei, den ich jemals sehen würde. Ich sollte sterben, in dieser Nacht, an diesem Ort. Und ich hatte keine Angst. Wie ich schon sagte, der Tod war schon immer mein stiller Begleiter.

Ich spürte Garance an meiner Seite, wie sie mein Handgelenk ergriff und hinein biss. Ich spürte, wie Kraft und Leben mich verließen und ich dachte an den Sonnenaufgang während ich meinen Blick auf Armands Augen gerichtet hielt.
.
Ich brach zusammen, tot. Doch das war nicht das Ende. Nicht mein Ende. Flüssigkeit kam in meinen Mund. Kraft, eine dunkle Macht. Und mit ihr der Schmerz! Oh welche Schmerzen! Ich wand mich, krümmte mich und schrie. Die Erinnerung daran lässt mich schaudern. Ich lag auf dem Boden, bei vollem Bewusstsein und spürte, wie mein Körper starb. Ich glaube nicht, dass sich jemand diese Schmerzen vorstellen kann, der sie nicht selbst erlebt hat. Hier war es nicht der Tod eines anderen, der Einfluss auf mein Leben haben sollte. In dieser Nacht war es mein eigener Tod. Ich starb, um neu geboren zu werden.

Als ich schließlich aus dem Alptraum aus Schmerz erwachte, hatte ich nur einen Gedanken: Hunger! Und ich trank den Wein, der mir noch wenige Stunden zuvor so abscheulich schmeckte. Und als ich nicht mehr völlig wahnsinnig vor Hunger war, schickte Armand seine Tochter Garance los, mir, ihrer neuen Schwester zu zeigen, wie wir uns ernähren. Ich hatte noch eine Rechnung offen. Ich bin gestorben und hatte eine neue Familie gefunden. Und ich musste und jetzt, wo ich darüber nachdenke, wollte ich auch die letzte Verbindung zu meinem sterblichen Leben durchtrennen. Der Mann, der verantwortlich trug für den Körper, den meine Seele bewohnt, er sollte sterben. Und nicht wie ich, wieder auferstehen.

So wurde aus mir, Génèviève Eugenie de Clary, der ungeliebten jüngsten Tochter eines Tuchhändlers, eine der seltensten Rosen. Eine Rose, die nur in der Nacht blüht, geliebt von ihrem neuen Vater. Ich verdanke ihm meine Existenz. Und ohne ihn bin ich nichts. Ich hoffe, dass ich ihn niemals enttäuschen werde.

Und ich danke meiner Schwester Garance, dass sie mir eine Hand reicht in dieser neuen Existenz. Danke, dass du mir diese neue Welt erklärst.



Nienburg, erste Nacht des Monats Februar im Jahre 1871

Génèviève Eugenie de Clary
Kind der Rose


Anmerkung von ThalayaBlackwing:

Es ist die Vorgeschichte zu meinem Vampire Live Charakter. Ihr Leben vor der Schaffung.

Viel Spaß bei Lesen. Konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge sind genausogern gesehen, wie Lob.

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Kommentare zu diesem Text


 Skala (19.04.13)
Hab die ersten Absätze mal überflogen, zu mehr reicht mir gerade die Zeit nicht. Vom Schreibstil gefällt mir das ganz gut (dass es um Vampire gehen soll, ignoriere ich jetzt für den Anfang einfach ;) ). Was mir allerdings etwas unangenehm ins Auge fiel, war 6te und 3te. Schreibt man das im Deutschen so? Würde ich eher lassen. 6te ginge das sogar noch, es spräche sich ja Sechste aus, aber aus 3te würde dann ja Dreite... Also ich würde entweder 6. und 3. oder sechste und dritte schreiben. Ausgeschrieben wär's noch besser, das macht man in Prosa eigentlich bis zur Zahl Zwölf.
Liebe Grüße,
Skala.

 ThalayaBlackwing meinte dazu am 19.04.13:
Danke erstmal für deine Vorschläge. Ich habe überlegt, wie ich es gern schreiben würde, diese Aufzählungen. Geschrieben soll dieser Text ja im Jahre 1871 sein (was man unten dann am ende erkennt) Daher fand ich 1. oder 3. oder so irgendwie komisch, aber ans Ausschreiben habe ich gar nicht gedacht

Danke

Und Vampire... Ja passiert. Fuers Live halt, da brauchen die Chars einfach mal mehr Substanz. Und sie ist ja hier noch komplett Mensch...
MaricaMistaken (25)
(23.04.13)
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 ThalayaBlackwing antwortete darauf am 03.05.13:
Vielen Dank!

Es freut mich, dass der Text dir gefallen hat. Ich schreibe ja ganz selten Deutsch und Prosa ja schon gleich gar nicht.

Immer nur diese Hintergrundgeschichten...

 Augustus (21.08.14)
Ich finde den Text hervorragend...

Grüße,
Augustus

 ThalayaBlackwing schrieb daraufhin am 21.08.14:
Ich danke dir, Augustus.
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