Die Greisin

Tagebuch zum Thema Tod

von  kirchheimrunner

Die Greisin

Frische Luft strömte ins Zimmer und blähte die vergilbten Vorhänge wie Segel. Es war die sanfte Kühle würziger Herbstluft, in der die Greisin aufatmen konnte.

Nur kurz aufatmen.

Versunken, beinahe schon verschwunden, lag sie in ihren Kissen.

Sie war klein geworden, klein wie ein Kind.
Und sie war leicht wie eine Feder.

Weiß, bleich und wächsern war ihr Gesicht.
Die frische Luft tat ihr gut. Ihre Atemzüge wurden wieder hörbar, rasselten pfeifend aus der Lunge, spuckten etwas von ihrem Leben aus.

Die Augen, die müden Augen, die soviel vom Leid gesehen hatten, sie starrten an die rissige Holzdecke. der Verstand der alten Frau war schon lange  trüb geworden und verdeckte das, was sie sehen wollte.
Das Licht!

Wieder strömte frische Luft ins Zimmer
und brachte den Geruch von welkem Laub und von schwerer, regengetränkter Erde.
Es roch nach Verwesung, es roch nach Grab; -
trotz der frischen Luft.

Die blassroten Treibhaustulpen auf der Kommode waren schon lange verwelkt. Sie hingen leblos mit den Köpfen nach unten.

Meine Mutter schien etwas zu hören
Sie freute sich; -
sie lächelte; -
lächelte ganz still und zufrieden.

Dann wollte sei sprechen, sie wollte antworten.
Sie bewegte den Unterkiefer ohne den Blick von der Holzdecke zu wenden, der ihr Horizont war und ihr Himmel.
Sie bewegte die Lippen, aber ohne ein einziges, verständliches Wort zu sprechen.

Die Sprache hatte meine Mutter schon lange verloren.

Es gibt große, tiefe, ungelöste Geheimnisse in dieser Welt. 

Doch alle diese Geheimnisse verblassen vor dem Verstand der alten, schwer demenzkranken Frau.

So wird nie jemand erfahren, was meine Mutter dachte,  als sie an die Decke starrte und ein letztes mal die frische Luft atmete.

****

Epilog


Als später das Fenster geschlossen wurde,
brannten schon die Kerzen.
Ein Kreuz, stand auf ihrem Nachttisch.
Das Kruzifix mit dem geschundenen Heiland, warf einen großen zitternden Schatten an die Wand.

Der Schatten sah merkwürdig aus; - er sah aus, als ob eine arme Menschenseele die Wand entlang tastet und versucht das Sterbezimmer zu verlassen.

Der Rosenkranz war um ihre dürren Hände gewickelt.

***

Anmerkung:


Am 21. Oktober 2004 starb meine Mutter mit 81 Jahren. Wir hatten Sie über 3 Jahre zu hause gepflegt. Sie litt an Alzheimer Demenz. Ihre letzten beiden Jahre waren vom Leiden gezeichnet: Ellebogenfraktur, Schädelfraktur, Oberschenkelhalsbruch; - geistige Umnachtung.
Sie hat viel gelitten.

Unsere Verwandten fragten, ob ihr Tod eine Erlösung war. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ihr Tod schön war.
Sie sah den Himmel,in ihrer Todesstunde. Da bin ich mir sicher! Ihre Seele ist entkommen, aus ihrem geschundenen, gequälten Leib.

Unsere Kinder pflückten noch die letzten Herbstblumen von der Wiese und stecken sie ihr zwischen die gichtknotigen Finger.

Als die Ärztin vom medizinischen Notdienst kam um den Tod festzustellen, da erschrak sie zuerst: Nicht nur die Tote war im Zimmer sondern auch 4 Ihrer Enkelkinder.

Sebastian war das alles zu viel; - er musste raus an die frische Luft.
Susanna und Michael beteten.
Die kleine Bernadette sang mit glockenheller Stimme ein Kinderlied.


30. März 2005
© Hans Feil

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Kommentare zu diesem Text


 ViktorVanHynthersin (26.04.13)
Ein bewegender Text. Ein wenig monoton und distanziert klingt es, wenn immer von der Greisin gesprochen wird. Vielleicht sollte die Dame einen Vornamen (muss ja nicht der reale sein) oder einen Anfangsbuchstaben bekommen? Was meist Du?
Herzliche Grüße
Viktor

 kirchheimrunner meinte dazu am 26.04.13:
danke Viktor:
Der Tod meiner Mutter ist nun schon so lange her. ... Ich hab nun Namen und persönliches hinzugefügt.

Den Text habe ich so als Skizze auf meiner Festplatte gefunden....

L.G.
Hans

 Dieter Wal antwortete darauf am 27.04.13:
Tat dem Text gut. Schreib statt "Der Schatten sah merkwürdig aus; - er sah aus, als ob eine arme Menschenseele die Wand entlang tastet und versucht das Sterbezimmer zu verlassen." einfach: Der Schatten sah aus, als ob eine Menschenseele die Wand entlang tastet und versucht das Sterbezimmer zu verlassen.

 Lluviagata (26.04.13)
Lieber Hans,
ich mag solche Geschichten. Sie gehören zum Leben wie der Frühling und das Essen. Es ist dieses letzte Geheimnis, was mich an dem Thema fasziniert, die Erhabenheit wie auch die Schrecken, die es beinhaltet. Vielleicht, weil ich als junge Frau große Angst hatte vor dem Tod.

[Dort macht selbst die neurologische Wissenschaft halt.]

Diesen Satz würde ich der Feierlichkeit wegen, die du über den ganzen Text ausbreitest, weglassen! Ansonsten finde ich den getragenen Ton passend und auch die Anonymität.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Dieter Wal (27.04.13)
Im Kreis seiner Angehörigen friedlich sterben zu dürfen, ist (verglichen mit anderen Arten) großes Glück. Als mein heißgelieber Großvater gestorben war, meinte meine Mutter uns Kinder (11 und 13) vor der Bestattung beschützen zu müssen und nahm uns nicht mit. Das finde ich bedauerlich. Deshalb mein Kompliment, dass du es mit euren Kindern und deiner Mutter anders handhabtest. Auf dem Text liegt eine fast schon sakrale Stille. Danke, dass du ihn uns mitlesen lässt.

 tulpenrot schrieb daraufhin am 27.04.13:
Diesen Fehler habe ich auch gemacht. Ich könnte mich heute noch ärgern, dass ich meine damals 3 1/2 jährige Tochter nicht mitgenommen habe, als ihr Vater beerdigt wurde. Ich habe zwar meinen Mann begraben, aber seine Tochter war nicht dabei.... Ein bisschen war es auch deswegen, weil ich mich selber schützen wollte. Es war schwer genug, den Ehemann zu Grabe zu tragen - es wäre noch ein Zusätzliches gewesen, den Vater eines so kleinen Mädchens zu beerdigen. Das war mir zuviel. Jedoch schon bald merkte ich, dass das ein Fehler war, den ich bis heute bedaure.
janna (66)
(27.04.13)
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 tulpenrot (27.04.13)
Die Bernadette hat den richtigen Ton getroffen. Damals sicher und jetzt bei mir. Und dein Text auch. Und wenn Sebastian gehen musste, dann hat er mein Verständnis. Je nach Alter und Verfassung kann man solche Momente besser oder schlechter vertragen. So ist es eben.
Dein Text lädt ein nachzudenken - wo stehe ich? Mit welcher Person, die du um die Verstorbene gruppiert hast, identifiziere ich mich?
LG
Angelika
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