Ein interessanter Abend

Erzählung zum Thema Glaube

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Die Begegnung mit Michael hatte mich zuversichtlich gestimmt. Hier schien sich etwas anzubahnen, von dem ich allerdings noch nicht sagen konnte, wohin es mich führen würde.
    Einige Tage später machte ich mich früh abends auf den Weg zu seiner Wohnung. Ich hatte Glück, denn er war tatsächlich zuhause. Als ich kurz darauf seine recht große Wohnstube betrat, war ich doch etwas überrascht. Es standen da nur ein Tisch, ein Sessel und ein Stuhl, einige Bücherregale und ein alter Kohleofen, der aber nicht einmal brannte.
   

Er musste meinen prüfenden Blick zum Ofen hin mitbekommen haben: „Ich muss ein bisschen sparen. Den Ofen mache ihn nur an, wenn es richtig kalt draußen ist.“ Etwas irritiert fragte ich ihn: „Aber es ist Winter! Frierst du denn nicht manchmal?“
  "Ach,“ entgegnete er lächelnd, „wenn es richtig kalt wird, ziehe ich mir einfach einen zweiten Pullover über. Und außerdem ist oben unter dem Dach auch noch mein Bett, in das ich mich notfalls legen kann.“
Dann schaute er mich wie nach einer plötzlichen Eingebung forschend an und fügte hinzu: „Keine Angst, du brauchst heute Abend nicht zu frieren. Ich werde gleich mal den Ofen in Gang bringen!“

Wenig später saßen wir bei einer Tasse Kräutertee in der Nähe des nun brennenden Ofen. Michael hatte mir den bequemen Sessel überlassen und gegenüber auf dem Stuhl Platz genommen. Er lächelte ermunternd: „So, dann erzähl doch mal! Wie ist es dir denn in den letzten Jahren so ergangen?" Ich lehnte mich in den Sessel zurück und begann in meinen Erinnerungen zu kramen.
   Dann erzählte ihm von meinen Erfolgen im Schach, einer gescheiterten Liebesbeziehung und ein bisschen von meinem doch eher ungeliebten Studium. Schließlich sagte ich: „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich im Moment gar nicht so recht, wie es weitergehen soll!“ Woraufhin wir beide erst einmal einen Moment schwiegen.
    
Bevor die entstandene Stille dann doch zu peinlich werden konnte, griff ich nach meiner Tasse und sagte: “Und? Wie ist es dir ergangen? Erzähl mal!“ Dann nahm ich einen kräftigen Schluck und lehnte mich erneut in den Sessel zurück.
   „Ja“, sagte er, „ ein bisschen hast du ja schon gesehen, wie ich so lebe. Und das ist kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung. Mir ist das Spirituelle wichtiger als das Materielle!“ Ich schaute ihn erstaunt an: „Wie meinst du das?“

Nach einer weiteren halben Stunde hatte ich sein spirituelles Lebenskonzept halbwegs verstanden. Es basierte auf der Annahme, dass der Mensch in erster Linie ein geistiges Wesen und der Körper nur dessen Behausung sei. „Und die Seele wird immer wieder in einen neuen Körper hineingeboren. Die Buddhisten nennen dies Reinkarnation oder Wiedergeburt!“ erklärte er.
   „Ja, und wie lange soll das mit den Wiedergeburten so gehen?“ fragte ich etwas skeptisch nach.
Bis zur Erleuchtung! Wenn die Seele sich bis zur Vollkommenheit entwickelt hat, folgt die Erleuchtung. Und dann wird man nicht mehr wiedergeboren, sondern geht in das Nirwana ein!“ Er lächelte: „Aber das kann dauern! Manchmal mehrere tausend Inkarnationen! Der Weg ist das Ziel!“

Das klang alles schon recht abenteuerlich. Aber warum sollte es nicht so sein? Auf jeden Fall war es eine angenehmere Vorstellung als die, dass mit dem Tode alles endet. Er fuhr fort: „Ich konzentriere mich hauptsächlich auf meine geistige Weiterentwicklung, deshalb lebe ich so asketisch. Ich will mich nicht durch materielle Dinge ablenken lassen!“
   "Bist du ein Buddhist?", wollte ich nun wissen. Er dachte kurz nach und entgegnete dann: "Nein, eher nicht. Ich würde mich als einen Esoteriker bezeichnen." Ich schaute ihn fragend an. "Ein Esoteriker? Was ist denn das?"
  "Esoterik", sagte er, "bedeutet geheimes Wissen. Ein Esoteriker ist also jemand, der geheimes Wissen besitzt."
   Dann erzählte er mir noch von seiner Beschäftigung mit der Astrologie und den Tarotkarten. Er war fest davon überzeugt, dass nun das „Wassermannzeitalter“ (New Age) angebrochen und es vorherbestimmt sei, dass das Interesse an den esoterischen Dingen allgemein zunehmen würde. „Du wirst es erleben!!
   
Natürlich verstand ich nicht alles, was er mir an diesem Abend erzählte. Aber meine Neugier und mein Interesse waren geweckt. Konnte es nicht sein, dass die Sterne unseren Charakter und unser Schicksal beeinflussten und man dem Rat der Tarotkarten tatsächlich vertrauen konnte? Und vielleicht waren wir ja wirklich Seelen, die immer wieder neu in einen Körper hineingeboren wurden und sich neu zu bewähren hatten?
   
Auf dem Heimweg spürte ich eine neue Hoffnung in mir aufkeimen. Ist dies jetzt der richtungsweisende Zufall gewesen, auf den ich gewartet habe? Ich blickte hinauf in den winterlichen Sternenhimmel. Konnte es wirklich sein, dass unser Schicksal von dort bestimmt oder beeinflusst wurde?
   Ich war mir nicht sicher. Aber es hatte sich an diesem Abend unerwartet eine neue Tür mit der Aufschrift Esoterik aufgetan und ich beschloss, durch sie hindurchzugehen. Was habe ich schon zu verlieren?
  Wie hätte ich ahnen können, in welch eine teuflische Falle ich getappt war?


Anmerkung von Bluebird:

Folge 5  meiner autobiografischen und wahren Geschichte  aus dem Jahre 1985

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