Ich kann heute so weit laufen

Text zum Thema Geborgenheit/ Wärme

von  larala

Obwohl ich schon drei wurde, damals, hat mein Stiefvater mich immer getragen. Nicht huckepack oder seitlich auf der Hüfte, wie ich meine Kinder trug, sondern unermüdlich und mit beiden Armen. Er trug mich wie ein kostbares Geschenk vor sich her und setzte mich erst ab, wenn wir die Wohnungstür erreicht hatten. Meine Mutter schüttelte oft den Kopf darüber und schimpfte. Sie meinte, dass ich selbst gehen könne. Er blickte sie dann lächelnd an und sagte: “Schau doch, die kleinen Füßchen!“ Als ich sechs wurde, hat mein Stiefvater mich nur noch manchmal getragen. Er ließ mich statt dessen Treppen suchen, unter dem Vorwand, dass ich ihm so ein paar Stufen entgegenkommen könne. Ich rannte und suchte und er schmunzelte und keine war ihm angeblich schön genug, bis wir zu Hause waren. Als ich neun wurde, liebte ich es, ihn bei Spaziergängen an der Hand zu fassen. Sonst ging ich mit niemandem so. Nur unsere Hände vertrugen sich gut. Als ich zwölf wurde, fand ich, dass ich jetzt zu groß sei dafür. Wir liefen nebeneinander und ich redete und fragte und redete. Er antwortete und lächelte und antwortete. Wenn wir nach Stunden wieder zu Hause aufkreuzten, lächelten wir beide. Spaziergänge haben wir oft gemacht und immer ohne bestimmtes Ziel. Wir gehen dahin, wo es schön ist, sagte mein Stiefvater immer, und dahin, wohin unsere Füße uns tragen. Heute ist er alt und seine Füße tragen ihn gerade noch vom Wohnzimmer ins Bad. Immer wieder bleibt er stehen und hält sich fest, an der Wand. Wenn ich los muss, schafft er es meist bis zur Treppe, um zu winken. Ich zeige dann auf meine Füße und auf die Treppe und wir lächeln. Denken an unsere Geschichten, die wir für immer im Herzen tragen. Und ich weiß: Ich kann heute so weit laufen, weil du mich damals so oft getragen hast.

Danke!

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Kommentare zu diesem Text

ChrisJ. (44)
(20.07.13)
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 larala meinte dazu am 20.07.13:
Danke! Ich hoffe, ich habe es ihm oft genug gesagt.
ChrisJ. (44) antwortete darauf am 20.07.13:
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 Didi.Costaire (20.07.13)
Abgesehen von Überschrift und Thema dachte ich zuerst doch, es könne ein böses Ende nehmen. Dass der Schluss, zumindest, was das Zwischenmenschliche betrifft, so positiv ist, ist umso erfreulicher. Zudem schön formuliert!
Liebe Grüße, Dirk
(Kommentar korrigiert am 20.07.2013)
(Kommentar korrigiert am 20.07.2013)

 larala schrieb daraufhin am 20.07.13:
Ja, ein großes Glück.
Danke, Dirk, hab einen schönen Tag!

 Jorge äußerte darauf am 21.03.15:
Ich dachte beim Lesen auch wie Dirk (böses Ende)
Alles gelesen bedeutet mir: ein Riesenschwapp von Zärtlichkeit und Achtung spricht aus diesem "larala" Text.

Liebe Grüße
Jorge

 Lluviagata (20.07.13)
Geben und Nehmen in seiner natürlichen und daher schönsten Form.

Liebe Grüße
Llu ♥
(Kommentar korrigiert am 20.07.2013)

 larala ergänzte dazu am 20.07.13:
Ja...
Liebe Grüße zurück!

 Songline (20.07.13)
Wunderschön.
Liebe Grüße
Song

 larala meinte dazu am 20.07.13:
Danke!
janna (66)
(20.07.13)
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 larala meinte dazu am 20.07.13:
Eben deshalb, Janna, ja. Blut ist nicht immer dicker als Wasser.
Danke für deine Gedanken! Liebe Grüße, La
Anne (56)
(20.07.13)
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 larala meinte dazu am 20.07.13:
Ohne Worte. Danke, Anne!

 SapphoSonne (20.07.13)
Auch ich hatte erst Sorge, dass sich der Text in eine ganz andere Richtung entwickelt, aber was du dann geschrieben hast, steckt so voller Liebe und Achtung. Das ist einfach nur wunderbar zu lesen.
LG Sappho

 larala meinte dazu am 20.07.13:
Vielen Dank, liebe Sappho. Es bedeutet mir viel, dass man Liebe, Achtung und Respekt herauslesen kann.
Liebe Grüße, Lara

 Dieter_Rotmund (18.06.18)
Handwerklich gut gemacht, aber das Ende ist doch arg, arg rührselig. Wenn man unbedingt ein positives Ende haben will, nun gut, aber da ist weniger mehr, wir Leser sind ja nicht doof!
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