Epochentypische Gedichte. Postmoderne. Udo Kaube: Für den Getränkeverkäufer im ICE

Essay zum Thema Tod

von  EkkehartMittelberg

Ich habe mit dem Beitrag „Postmoderne Literatur“ (2007) im Autorenweb bereits einen Überblick über diese Epoche gegeben. Im Folgenden beschreibe ich in einem überarbeiteten Text (Autorenweb 2009) wesentliche Merkmale postmoderner Lyrik.

Zum Begriff „Postmoderne“
Es handelt sich um einen nur sehr schwierig zu definierenden Sammelbegriff für vielfältige literarische Strömungen einer Epoche, von denen sich keine entscheidend durchsetzen und mit ihren Leitideen prägend werden konnte. Die Postmoderne versuchte im Bewusstsein der Koexistenz unterschiedlicher Stilrichtungen nicht, mit einer Programmatik über Literatur Gesellschaft zu verändern.

Beginn und Ende postmoderner Lyrik
Wir lassen sie Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts beginnen, als die antikapitalistische Lyrik der Neuen Linken mit dem Versuch scheiterte, noch einmal eine Ideologie, in diesem Falle die marxistisch-leninistische, allgemein verbindlich zu machen. Neuerdings wird von Einzelnen das Ende der Postmoderne verkündet. Ein neuer Begriff für eine neue Epoche ist aber noch nicht in Sicht.
„Die neue Epoche bricht mit der Postmoderne, denn ihre wichtigsten Postulate: Ernsthaftigkeit der Erinnerung, Moral, Solidarität und Aufbruch, sind unvereinbar mit dem Theorem der Postmoderne.“
Le Bohèmien: Die Postmoderne ist tot ( http://le-bohemien.net/2013/02/25/die-postmoderne-ist-tot/)

Repräsentative Tendenzen postmoderner Lyrik

In der Postmoderne gibt es einen Pluralismus von Themen, Motiven und Textsorten in der deutschen Lyrik, die nicht mehr den Anspruch erheben, letzte unverbrüchliche Wahrheiten verkünden zu wollen. Die Folge sind divergierende charakteristische Merkmale:¶
- Angesichts des relativierenden Pluralismus suchen die Autoren nach der eigenen Identität.¶
- Die alltägliche Lebenswelt wirkt prägend. Dabei ist nichts als Thema und Motiv zu banal.¶
- Das Triviale wird aufgewertet, die Unterschiede zwischen kunstverständigen LeserInnen und Laien werden eingeebnet.
- Gleichzeitig wird erwartet, dass Zitate oder Anspielungen auf frühere Bearbeitungen des Themas/Stoffes/Motivs als solche erkannt werden. (Intertextualität)¶
- Erfahrungen, Stimmungen und Fühlweisen dominieren.¶
- Neben dem Verzicht auf klassische Strophenformen und Metren zugunsten des Vers libre, neben dem höheren Anteil gesprochener Alltagssprache steht gleichzeitig eine neue Vorliebe für traditionelle Gedichtformen, wie zum Beispiel Sonette, Oden, Stanzen, Elegien.¶
- Melancholie, verbreiteter Vergeblichkeitstopos, ohnmächtige Passivität¶
- Auf der einen Seite verschlüsselte hermetische Gedichte, auf der anderen Erneuerung romantischer Erlebnislyrik und ihrer Formen sowie deren Parodie¶
- Auf der breit gefächerten Skala der Motive dominieren Identitäts- und Sinnsuche.


Udo Kaube

Für den Getränkeverkäufer im ICE

(1) Ein fahrender Schlafsaal
(2) voll müder Patienten

(3) die Blicke gereizt
(4) die wenigen Stimmen gedämpft

(5) sie alle wollen träumen
(6) die Endstation vergessen

(7) du weißt das
(8) und doch zerrst du
(9) wässerigen Kaffee und klebriges Cola
(10) weiter durch Abteile voll von Klimaanlagenluft

(11) an den verspiegelten Fenstern
(12) springt ein kastrierter Wintertag vorbei
(13) und ist sich selbst genug

(14) es ist egal in welcher Stadt du los fährst
(15) bedeutungslos wann du aussteigst

(16) es bleibt alles unendlich gleich

Veröffentlicht in: Udo Kaube: Zwischen den Zeiten. De Holtes Verlag 2008

Interpretation
Das Gedicht benennt in der Überschrift den Getränkeverkäufer im ICE als seinen Adressaten. Ihm ist es gewidmet. Der Autor rechnet damit, dass die LeserInnen sich mit dem Getränkeverkäufer identifizieren. Während das „du“ in den Zeilen 7- 10 noch eindeutig auf den Getränkeverkäufer zu beziehen ist, kann der Leser es ab Zeile 14 wegen der Identifikation mit diesem auch auf sich selbst beziehen. Dadurch gewinnt das in der Postmoderne beliebte Motiv der Bedeutungslosigkeit/Vergeblichkeit einen unbegrenzten Radius der Wirkung.
Was ist nun egal (Zeile 14), was ist bedeutungslos (Zeile15)?
Vordergründig sind es der Einstiegsort in den ICE und die Ausstiegszeit, weil alles „unendlich gleich“ bleibt. (Zeile 16). Und wie wird diese Aussage begründet?
Das, was die Menschen in dem Schnellzug verbindet, ist der Wunsch zu träumen und die Endstation zu vergessen (Zeile 5/6).
Spätestens jetzt stellt sich die Frage, ob das Gedicht bloße Mimesis, Abspiegelung sichtbarer Wirklichkeit ist oder ob es eine Mitteilung enthält, die über das vordergründig Beobachtbare hinausgeht. Wir wagen hier die Deutung, dass die Endstation, die alle Menschen träumend verdrängen und vergessen wollen, der Tod ist. Mit dieser Festlegung gewinnt der ICE eine symbolische Bedeutung. Er steht für das Leben, das für alle „unendlich gleich“ bleibt (Zeile 16), gleichgültig, wo sie zusteigen/geboren werden (Zeile 14), gleichgültig, wann sie aussteigen/das Leben verlassen (Zeile 15), denn sie müssen alle sterben, und das bleibt „unendlich gleich“ (Zeile 16).
Man kann das Gedicht auch anders interpretieren, weniger auf die ultimative Frage nach dem Tod bedacht.
Das Leben ist ein fahrender Schlafsaal, in dem die LeserInnen die müden Patienten sind (Zeile 1 und 2), Patienten deshalb, weil sie darunter leiden, dass alles unendlich gleich bleibt.
Sie wollen das nicht wahr haben, deshalb sind „die Blicke gereizt“ (Zeile 3), deshalb wollen sie träumen und die Endstation vergessen, die auch nichts anderes als die Monotonie des unendlich Gleichen verspricht (Zeile 16). Das weiß der Getränkeverkäufer (Zeile 7), und doch schleppt er schlechte Wachmacher durch die Abteile, nämlich wässerigen Kaffee und klebriges Cola (Zeile 9). Sie werden in der künstlichen Luft („Klimaanlagenluft“) unseres hoch zivilisierten Lebens begehrt.
Die Zeilen 11-13 erklären, warum man im Leben so wenig entdecken kann, was die Monotonie des Immergleichen durchbrechen würde: Die Fenster sind verspiegelt, und die Außenwelt, der Wintertag, ist kastriert und kommt dem entdeckungswilligen Beobachter nicht entgegen. Sie ist „sich selbst genug“ (Zeile 13). Angesichts dieser Wahrnehmungsbeschränkung sind Ausgangsort und Ziel gleichgültig (Zeile 14-16)
Und der ICE-Verkäufer? Er weiß das alles und muss in dem Lebenszug nach Nirgendwo weitermachen. Damit steht er symbolisch für die erkannte Vergeblichkeit des Lebens.
Was ist nun an dem Gedicht typisch postmodern? Es ist das Gefühl der Vergeblichkeit eines seines Sinns entfremdeten monotonen Lebens, das als solches zwar erkannt, aber durch Träumen und Vergessen der tiefsten Sinnfrage (Endstation) nicht sinnvoll wird. Die Hoffnung und der große Elan, dieses ändern zu können, sind der Postmoderne verloren gegangen.

© Ekkehart Mittelberg, Oktober 2013

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Kommentare zu diesem Text

GabrielSiegmann (35)
(02.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.10.13:
Vielen Dank. Wenn es Epochen gibt, müssen sie auch benannt werden. Wie sollte man sich anders in der Literaturgeschichte orientieren?
LG
Ekki
GabrielSiegmann (35) antwortete darauf am 02.10.13:
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 02.10.13:
Okay, nennen wir die Renaissance Gurke und das Barock Banane. Hattest du nicht dieser Tage mal von Expressionismus gesprochen?

 Dieter Wal äußerte darauf am 02.10.13:
Bin für Barock-Banane! Soziologisch find ich es schon spannend, welche auch für uns im Wesentlichen noch gültigen Kriterien unter Postmoderne erarbeitet wurden.
GabrielSiegmann (35) ergänzte dazu am 02.10.13:
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ichbinelvis1951 (64)
(02.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.10.13:
Vielen Dank Klaus, ja, der kastrierten Wintertag ist typisch für das Gedicht. Er ist seiner vitalen Natur beraubt und kann als Metapher für Vergeblichkeit gelesen werden.
LG
Ekki
LancealostDream (49)
(02.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.10.13:
Merci, Lance, ich überlese dein Humorzeichen nicht. In dem Sinne meine Antwort: Vielleicht triffst du auf einen neoliberalen Lackierten, der vor Optimismus nur so sprüht.
LancealostDream (49) meinte dazu am 03.10.13:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.10.13:
Ich danke dir, Lance, tief erfreut.

 Dieter Wal (02.10.13)
Bereits Rimbaud schrieb: Man sollte absolut postmodern sein! :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.10.13:
jDanke, Dieter, ja, der war seiner Zeit voraus. Wer postmodern fühlt, hat jedenfalls nichts verpasst. Die Melancholie ist doch so schön. Man erhält sie durch postmoderne Lyrik kostenfrei und muss dafür nicht im November an einen verlassenen Strand von Portofino fahren. )

 TassoTuwas (02.10.13)
Sehr spannend, wobei sich mir die Frage stellt,, wie kam es in der Zeit der nachsiebziger Jahre, die Aufschwung, Vollbeschäftigung, Wirtschaftswunder etc, also für den Bürger Positives brachte, zu diesem depressiven Lebensbild?Schicksalsergebene Passagier in einem seelenlosen Zug.
LG TT
Graeculus (69) meinte dazu am 02.10.13:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.10.13:
@Tasso: Gracias für die spannende Frage @Graeculus: Vielen Dank. Ich möchte Tasso nicht vorgreifen. Aus meiner Sicht hast du es getroffen.
Ich wäre etwas vorsichtiger mit dem "Wir". Oder ist es als selbstironischer Pluralis maiestatis zu verrstehen?
LG
Ekki

 TassoTuwas meinte dazu am 02.10.13:
Graecukus, viele der vom dir aufgezählten Schrecken treffen auf die Jetztzeit zu, nicht aber auf die Siebziger. Damals herrschte Aufbruchstimmung, Reisen, Autos, Fernsehen, alles neu, und man hatte einen Glauben, den an die soziale Marktwirtschaft. Ich denke eher, dass gerade dieses allgemeine Wohlergehen im Konsum, die Protogonisten einer neuen Kunst zu einer pessimistischen Gegenbewegung heraus gefordert hat.
Graeculus (69) meinte dazu am 02.10.13:
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Laudalaudabimini (59) meinte dazu am 13.11.13:
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wa Bash (47)
(02.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.10.13:
Gracie wa Bash, dein Gefallen ist mir Ansporn.
LG
Ekki
Schrybyr† (67)
(03.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.10.13:
Merci, Schrybyr. "Narzißtismus", eine originelle Idee! Über den Beginn kann man streiten, ich würde ihn später ansetzen. Aber ansonsten hat der Begiff etwas, schon deshalb, weil ihn jeder von sich weisen, bezogen auf andere aber akzeptieren würde. Man fühlt sich hier und anderswo täglich daran erinnert.
Schmunzelgrüße
Ekki
Pocahontas (54)
(07.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.10.13:
Grazie, Sigi, ja, die Postmoderne spiegelt Weltschmerz, kennt aber auch optimistische Ansätze. Doch die depressiven und fatalistischen Züge überwiegen.
Herzlichst
Ekki

 TrekanBelluvitsh (07.10.13)
(Kommentar eines Nichtlyrikers:) Es fällt mir tatsächlich schwer, Kaubes Text als Gedicht zu identifizieren oder auf anzuerkennen. Es ist in meinen Augen eher ein Prosatext mit erstaunlich gesetzten Zeilenumbrüchen. Nichtsdestotrotz sehe ich in ihm eine gutes Beispiel für die Postmoderne an sich, die sich meiner Meinung nach vor allem durch das große Verlangen vieler definiert, in ihr leben zu wollen.[/i]

Wenn diese meine Ansicht richtig ist, resultiert daraus eine gewisse Beliebigkeit und vor allem ein ungefilterter Ergozentrismus. Und tatsächlich finde ich davon vieles in dem Teil deines Textes aufgelistet, denn du mit "Repräsentative Tendenzen postmoderner Lyrik" überschrieben hast. Logisch zu Ende gedacht müssten diese Gedankengänge auch dazu führen, dass man Kategorisierungen völlig auslöst und alles Geschriebene nur noch Texte nennt. Doch dieser Schritt scheint eher unbeliebt zu sein, könnten die VerfasserInnen von solchen Texten sich doch dann nicht mehr 'LyrikerInnen' oder 'DichterInnen' nennen, was - jetzt wird es einen wenig psychologisch - dem eigenen Selbstbild doch sehr abträglich wird.

Abschließen habe ich nach diesem deinem Essay den Eindruck, dass postmoderne Lyrik 'herumeiert', weder weiß, wo sie hin will noch, wo sie herkommt. Interessant ist das nur bedingt
"Dabei ist nichts als Thema und Motiv zu banal.
und der Leser wird mal geachtet
"Gleichzeitig wird erwartet, dass Zitate oder Anspielungen auf frühere Bearbeitungen des Themas/Stoffes/Motivs als solche erkannt werden. (Intertextualität)"
und mal für einen DAU gehalten,
"(...)die Unterschiede zwischen kunstverständigen LeserInnen und Laien werden eingeebnet."
was wohl eher - jetzt wird es wieder ein wenig psychologisch - ein deutliches Anzeichen für das mangelnde Selbstwertgefühl und den Selbsthass der postmodernen LyrikerInnen und DichterInnen ist.

Und dies sieht ein misanthropischer Nichtlyriker in deinem Essay...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.10.13:
Lieber Trekan, ich danke dir sehr für die Auseinandersetzung mit meinen Kriterien zur Postmoderne, die widersprüchlich sind wie die Epoche selbst.
Ja, die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa werden von einem Teil der Autoren der Epoche bewusst verwischt. Deshalb mag einigen Lesern das Gedicht von Kaube auch nicht als Lyrik erscheinen. Ich habe es dennoch ausgewählt, weil es das Zeitgefühl des taedium vitae (Lebensüberdruß) so deutlich zum Ausdruck bringt.
LG
Ekki
Laudalaudabimini (59)
(13.11.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.11.13:
Merci, Lauda, du hast auf kurzem Raum wesentliche Ursachen für den heutigen Fatalismus analysiert.
LG
Ekki
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