Kongress der Schatten

Satire zum Thema Befreiung

von  shinai

Der Mond schickte sein weiches, mattes Licht über die Felder. Dunkel lagen die Wälder und der Nebel zog in milchigen Schwaden über das Land. Die Menschen und Tiere lagen in tiefem Schlaf. Es war still. Nur das leise Rauschen des Windes im Blätterwerk der Bäume und Sträucher und das gelegentliche Rascheln von kleinen Nagern im Unterholz war zu hören. Wie ein grosses Gespenst legte sich die Nacht über die Welt und hüllte sie in ihren Schutz ein.

Doch hie und da bewegten sich Schemen schattenhaft den Bäumen entlang, glitten von Stamm zu Stamm über den kühlen Boden des Waldes, der grossen Lichtung zu. Dort, inmitten dunkler Gestalten, loderte ein grosses Feuer funkenstiebend in den Himmel hinauf und sandte seine flackernden Strahlen in die Menge der Unheimlichen. Hier waren sie nun endlich nach zehn langen Jahren auf ein Neues zusammengetreten, um zu berichten, um zu beraten und sich Geschichten zu erzählen. Heimlich hatten sie sich davongestohlen, im Schutze der Nacht, unerkannt. Hatten, als ihre Meister schliefen, die Bande gelöst, die sie an sie fesselt, um eine Nacht der Freiheit zu geniessen.

Die Schatten. Dunkel hoben sie sich vom braunen Waldboden ab. Sie hatten sich in grösseren oder kleineren Gruppen um das Feuer versammelt. Da waren zum einen die ganz jungen Schatten, auch Erstlinge geheissen, die ihre Neugierde kaum zu verbergen wussten. Vor lauter Aufregung trampelten sie einander auf den Füssen herum und reckten die Nasen in die Höhe, um mehr zu sehen.

Diejenigen, die schon das zweite oder dritte Mal zugegen waren, verhielten sich betont lässig, geradezu uninteressiert, warfen nur ab und zu einen Blick in die Runde, den sie dann durch ein kurzes Achselzucken beendeten. Gruppierungen weiblicher und männlicher Schemen schlenderten durch die Menge, plaudernd, aber vor allem betrachtend. Das Angebot wollte gut beäugt sein.

Die Alten hielten sich etwas abseits, wohlweislich. Sie hatten sich am Rande der Lichtung auf einige umgestürzte Baumstämme oder nach eingehender Prüfung der Nässe des Bodens auf denselbigen gesetzt. Hatte man je eine solche Schar von Grünschnäbeln gesehen? Die Zeiten hatten sich geändert, ,jaja, kein Vergleich zu früher. Man stellte gemeinsam Listen auf, wer erschienen war, wer nicht, wenn nicht, warum. Ausserdem war es unablässig, einander das Erlebte zu berichten. Zehn Jahre sind eine lange Zeit.

Es war ein Getümmel wie in einem Bienenstock. Kreuz und quer liefen sie durcheinander. Von Zeit zu Zeit stolperte man über einen der Erstlinge, die geschickt zwischen den Beinen der Grossen durchwieselten. Das allerdings nur so lange, bis ihre Mutter sie am Kragen zu fassen bekam und sie zum elterlichen Stammplatz gezogen und geschoben wurden.
Und der Strom der Ankommenden riss nicht ab. Die Ältesten warfen ab und zu einen besorgten Blick gen Himmel, denn die Veranstaltung musste vor dem Morgengrauen vorüber sein. Auch der Lärm war beängstigend. Aber schon bald darauf verwandelte sich der Strom in ein Rinnsal und verebbte schliesslich ganz.

Als alle Schatten sich eingefunden hatten, die Höflichkeiten ausgetauscht waren und der Lärm allmählich in ein Flüstern übergegangen war, trat der Älteste der Schatten zum Feuer hin und stellte sich vor den anderen auf. Als er die Hand hob, verstummte das Flüstern. Die Spannung war beinahe greifbar. Das Feuer knisterte. Irgendwo hörte man ein Käuzchen schreien. Einigen Erstlingen gelang es, ihren Eltern zu entkommen und sich näher ans Feuer zu pirschen. Dort setzten sie sich mit vorgereckten Hälsen in Reih und Glied nebeneinander und warteten, was nun kommen sollte. Was würde geschehen?

Vorerst nichts. Der Älteste warf erst einmal einen langen, wohlwollenden Blick in die Menge und wippte auf den Fussballen auf und ab. Dann räusperte er sich. Die Hälse der Winzlinge wurden noch etwas länger als sie ohnehin schon waren und auch die älteren Schatten konnten sich der Aufregung kaum noch entziehen. Der Älteste sah den Augenblick gekommen. Er wippte noch einmal und blies dann seinen Brustkorb auf, um seine Stimme zu einer sehr feierlichen Rede anzuheben.

„Seht nur, was sie mit mir gemacht hat", heulte es da aus einer der hinteren Reihen. Alle Schatten drehten sich erstaunt um, und der Älteste wäre vor Überraschung beinahe an der eingesogenen Luft erstickt.
„Ich bin so fett!" Und langsam bahnte sich einer der Schatten durch die Masse, näherte sich dem Feuer, blieb aber etwas entfernt davon stehen. Es war ein, nun, etwas massiger Schatten weiblichen Geschlechts. Seine Silhouette war kurzhaarig und etwas... unproportioniert. Er sackte in sich zusammen und jammerte vor sich hin. „Früher war sie schön, gertenschlank. Ihr Haar war lang, schwarz und weich und es schimmerte matt im Sonnenlicht. Wie herrlich war es, spazieren zu gehen und sich vor den anderen zu zeigen. Doch dann hat sie, hat sie..." Die klägliche Gestalt überkam ein Zittern, das Schluchzen wurde lauter und unkontrollierter. Zwei Schatten kamen ihr zur Hilfe und suchten sie zu beruhigen.

„Ich bitte Sie, meine Gnädigste," liess sich eine sonore Stimme vernehmen, „aber ihre Probleme sind wohl kein Vergleich zu den meinen. Ich bin seit über fünfzig Jahren der Schatten eines akademisch gebildeten Herrn, der wohl über grosse Kenntnisse in Physik, Mathematik, Chemie, Astronomie, Biologie, Theologie und Philosophie verfügt und diese seit Jahren zu vertiefen sucht. Alleine zu diesem Zwecke hat er sich ein Zimmer einrichten lassen und dieses mit ausgesuchten Werken der hervorragendsten Autoren angereichert. Ausserdem mit etlichen, zu Experimenten notwendigen Apparaturen und Instrumenten, darunter ein Teleskop. Nun verbringt er Stund um Stund damit zu, sein Wissen zu erweitern, neue Theorien aufzustellen und sie mit jenen anderer Wissenschaftler zu vergleichen. Doch seht ihr, er kommt aus der Kammer nicht mehr heraus. Nun bin ich über fünfzig Jahre alt und habe von der Welt nichts gesehen. Und ich möchte doch so gerne in die Welt hinaus, zu all den Orten von denen ich bisher nur gehört habe.. Ich möchte mich über die Pyramiden ergiessen, mich im Wasser des Amazonas spiegeln und über die Bäume der Regenwälder und den heissen Wüstensand gleiten. Ach, wie sehr wünschte ich mir das." Und mit einem wehmütigen Seufzen beendete er seine Rede. Für einen kurzen Augenblick herrschte Totenstille, sogar das Schluchzen des breiten Schatten war verstummt. Doch schon erhob sich die nächste Stimme, ein heller Tenor.

„Mein Guter, die Wüste ist nicht so angenehm wie es scheinen mag. Man verbrennt sich der Länge nach im Sand, während die Menschen hierauf freilich keine Rücksicht nehmen. Ich spreche aus Erfahrung, denn mein Meister ist Archäologe."
„Ich habe seit vier Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen," klagte es irgendwo aus der Masse heraus. „Und seht euch an, wie ich aussehe." Ein leises Klappern wurde hörbar, als der Sprecher sich erhob und in eine Lücke zwischen den Ältesten und der wogenden Menge trat: Der Schatten eines dürren Skeletts.

„Es ist schon wahr, dass auch wir Schatten nach dem Tode unseres Menschen zur Ruhe kommen. Aber mir war dieses Glück nicht beschieden. Denn man hatte den Körper meines Meisters erst kurze Zeit in sein Grab hinabgelassen und mit Erde bedeckt, als plötzlich neben mir eine Stimm zu sprechen begann. Es war mein Meister, vielmehr sein Geist. Und während sein Körper , und somit auch ich, immer weniger wurde, klagte er pausenlos über sein Elend. Alle seine Verfehlungen, die ich, nebenbei bemerkt, alle miterleben durfte, musste ich mir anhören, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Und wenn ich des nachts ab und zu aus dem feuchten Grabe stieg, so folgte er mir, und heftete sich mir an die Fersen. Führe er doch nur gen Himmel, oder versänke in der Hölle. Nun habe ich ihn mein ganzes Leben lang ertragen, steht mir denn keine Ruhe zu?"

„Und er mutet Ihnen tatsächlich dieses Aussehen zu?" wollte ein Schatten mit französischem Akzent wissen. „Also mein Herr", fügte er näselnd hinzu, „würde sich niemals so gehen lassen, jamais." Und wie zur Bekräftigung strich er sich über die Silhouette seines Schnurrbartes.
Ein Schatten, der unbemerkt neben den Ältesten geglitten war, zupfte diesen am Ärmel und fragte schüchtern:„Dürfte ich wohl etwas sagen?"
Der Älteste lächelte noch wohlwollender als sonst auf den zaghaften Schatten hinab und nickte.

„Nun", begann der Schatten mit leiser Stimme.
„Etwas lauter, man versteht kein Wort", riefen da einige Schatten aus den hinteren Reihen. Der Schatten zuckte etwas zusammen, fuhr dann aber mit etwas lauterem Stimmchen fort.
„Nun, meine Herrin ist schwanger. Abgesehen davon, dass dies natürlich ein schönes Ereignis für sie ist und ich es ihr wirklich von ganzem Herzen gönne und der dicke Bauch, wenn er auch ein bisschen lästig, so doch verzeihlich ist, bin ich einfach völlig erschöpft. Denn jedes mal, wenn sie etwas gegessen hat, und das sind keine normalen Mahlzeiten, nein, Schokoladekuchen mit Salzgurken, Braten mit Marmelade und diese furchtbaren Heringe in saurem Sud, brrr. Nun jedenfalls rennt sie pünktlich eine halbe Stunde nach dem Essen auf die Toilette und, und...übergibt sich. Habt ihr eine Vorstellung davon, wie schwer es für einen Schatten ist zu erbrechen? Ich bin nun schon recht trainiert, und bin dazu übergegangen Kreise und Quadrate zu erbrechen, aber ein Zustand ist das nicht."

„Oh, Kreise und Quadrate. Ich wäre so gerne ein Quadrat, oder zumindest ein gleichschenkliges Dreieck.!" Der am Boden sitzende Schatten zog die Beine an, umschloss die Knie mit seinen Armen und legte den Kopf schief. „Aber mein Meister hat keine Phantasie."
„Ja, das ist wahr, Die Menschen haben keine Phantasie, nicht die geringste."
„Wisst ihr, was ich furchtbar unangenehm finde? Wenn man auf der Strasse über einen Schatten streichen muss, der einem vielleicht nicht sehr zusagt. Die Menschen könnten doch einen Bogen darum machen, aber nein. Sie nehmen keine Rücksicht auf uns."

Einer jener desinteressiert dreinblickenden Jungschatten meldete sich hierauf zu Wort. „Mein Meister ist ein Student, was war das doch gleich, richtig, Wirtschaft. Unter der Woche ist er ein seriöser, gelehriger Mensch, aber am Wochenende, Junge, Junge. Was der eins hinter die Binden kippt. Das alles ist sein Bier, stört mich nicht. Aber ich muss ihn notgedrungen nach Hause begleiten. Was ich mir schon den Kopf eingerannt habe wegen diesem Idioten.
Er steuert zielsicher in Richtung der Strasse, um im letzten Moment nach links auszuscheren, wobei er nur knapp an einer Laterne vorbeiststreift. Wohlgemerkt, er! Ich krache natürlich mit Schwung in die Laterne rein.
Letzten Samstag sind mir dann die Sicherungen durchgeknallt. Er hatte mich gerade in eine Mauer gelotst und schwankte auf einen Hauseingang zu, als ich mich unter grössten Anstrengungen von der Wand abhob, und mich ihm gegenüber aufbaute. Dem hab ich aber meine Meinung gesagt, das könnt ihr mir glauben. Und was tut er? Er pisst mich an, einfach so, und lallt etwas von wegen sprechender Zielscheibe."

„Wie gemein", liess sich der Schatten eines Mädchens neben ihm vernehmen. Ihre Hand legte sich auf die seine und sie lächelte ihn an.
Währenddessen wurden immer mehr Stimmen laut. Dem einen war sein Meister zu dumm, dem andren zu intellektuell. Ein weiblicher Schatten beklagte sich über die immerwährenden Besuche des Kunsthistorischen Museums, wo doch ihre ganze Leidenschaft der Rockmusik gehöre.
Der breite Schatten, welcher am Anfang das Wort ergriffen hatte, diskutierte nun angeregt mit einer Leidensgenossin darüber, wie man ihre Meister zum Abnehmen bewegen könnte.
Auch andernorts bildeten sich kleine Grüppchen. Man klagte, man tröstete, hier ermutigte der eine den andren, dort hörte ein Schatten einem Gefährten geduldig zu und erteilte ihm hernach Ratschläge, die er für nützlich erachtete.

Einige der älteren Schatten mahnten zur Demut und meinten, man solle sich nicht so anstellen. Es sei schon immer so gewesen und was früher gut gewesen sei, sei auch heute noch gut.
Ein männlicher Schatten, der etwas abseits stand, murmelte traurig in sich hinein „Ach wäre ich doch ein weiblicher Schatten, ach wäre das schön."
Der Lärm wurde immer grösser, ohrenbetäubend, die Gemüter immer hitziger, der Ton immer aggressiver. Man gestikulierte, man diskutierte. Welch utopische Ideen entstanden, wurden verworfen, wieder aufgegriffen.
Eine Revolution lag in der Luft. Man war sich nur noch nicht über die Form einig.

Reden, sagten sich die Radikalen, kann man mit den Menschen nicht, man muss sie einfach überrollen. Nein, meinten die Gemässigteren, damit stelle man sich auf das selbe Niveau wie die Menschen und es sei nun wirklich nicht nötig so tief zu sinken. Und wieder schrien die Reaktionären, man solle mit diesem Unsinn aufhören, es sei schon immer so gewesen und darum müsse es so bleiben. Und ausserdem sei eine Revolution schon aus physikalischen Gründen nicht möglich.

„Woher wollt ihr das denn wissen", rief eine junge Mutter aus dem Lager der Radikalen, „ihr habt ja nie den Mumm gehabt es auszuprobieren! Ich sage euch, wenn wir nichts unternehmen dann bestätigen wir das Verhalten der Menschen uns gegenüber. Mehr noch, wir legitimieren es. Was ist denn Kind? Siehst du nicht, dass ich zu tun habe?"
„Mutter, sieh doch, die Sonne ist ganz rot." Mit einem Ruck drehte sich der junge Schatten um und starrte in die Richtung, in die das Schattenkind mit ausgestrecktem Arm und hohlem Kreuz zeigte. Mit ihr drehten sich auch all die anderen Schatten um. Eine Weile standen sie alle wie versteinert da. Dann drehten sie sich einander zu und sahen sich an.

Und plötzlich ging ein Ruck durch die Menge. Eltern riefen nach ihren Kindern, andere waren schon im Wald verschwunden. Der Älteste, der noch immer beim Feuer stand, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Offenbar hielt er eine Abschlussrede, von der infolge des Lärms freilich nichts zu hören war. Hastig machten sich einige Schatten ans Löschen des Feuers, andere kümmerten sich um Erstlinge die brüllend in der Gegend standen.
„Warum schleppen die jedes Mal ihre Kleinkinder mit", rief der Studentenschatten von vorhin, wobei er versuchte den Finger des Erstlings aus seinem rechten Auge zu bekommen. „Ich beantrage die Ausschliessung der Erstlinge von sämtlichen Versammlungen", brachte er glucksend hervor.
„Ach, halt den Schnabel und schau zu, dass du nach Hause kommst. Es dämmert schon, aber richtig."

Und während die Sonne schon die ersten Bäume, die rund um die Lichtung standen anstrahlte, huschten die letzten paar Schatten auf der anderen Seite der Lichtung in den Wald. Der Rauch des erloschenen Feuers stieg schlängelnd in die Höhe und begrüsste den neuen Tag.


Anmerkung von shinai:

Zehn Jahre haben sie auf diese Nacht gewartet und ein mancher kann es kaum erwarten, seinem Meister von der Seite zu weichen und sich davon zu machen.
(Ein alter Text - beinahe steinzeitlich).

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (18.01.14)
Der Text gefällt mir. Ich weiß nur im Moment nicht so genau, woran er mich erinnert.

 Dieter_Rotmund (18.01.14)
Im literarischen Schützengraben, mit einem guten Stil gegraben, überlebt ich das massive Adjektiv-Bombardement schon des ersten Absatzes von "Kongresse der Schatten" nicht und fiel ganz trivial ins nüchterne Grab.

 shinai meinte dazu am 18.01.14:
Ha, das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Obwohl: sechs Adjektive - das ist noch steigerungsfähig. Danke für den Hinweis, der in diesem Falle nicht weh tut, weil ich den Text als Teenager geschrieben habe. Aber ich werde mal die neueren Text auf Adjektivinfektionen durchsuchen - war ein sehr nützlicher Kommentar!
(Antwort korrigiert am 18.01.2014)
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