Dnipro

Text zum Thema Katastrophen

von  bluedotexec

Molly machte sich auf den Weg, denn irgendwo unter Deck wartete ihre Koje. Sie zeigte ihr Ticket dem Zuweiser, der, gekleidet wie ein Hotelportier, vor dem mittschiffs gelegenen Deckzugang stand, der zu den Kabinen der Decks B bis D führte. Die Kabine und Deck standen auf dem Ticket, das sie, inzwischen ohne den Abriss, der ihr attestierte, das Schiff vom Heimathafen in Transsilvanien betreten zu haben, noch immer umklammert hielt. Sie stand wieder in einer langen Schlange, doch sowohl der dicke Norrington als auch die namenlose schöne Pilotin waren ihrem Blickfeld entschwunden. Sie suchte auch nicht besonders lange nach ihnen. Angesichts der Vibrationen, deren Frequenz langsam, aber stetig stieg, und der Tatsache, dass dem Bypass-Schornstein kein Wasserdampf mehr entströmte, verfiel sie erneut in kribbelnde Aufregung, die ihren Ursprung in ihrem Wissen um die Bedeutung dieser Dinge fanden. Es würde nicht mehr lange dauern. Festen Boden unter den Füßen hatte sie jetzt zwar schon nicht mehr, aber erst wenn die Kalina Bogdan wirklich dem Land entschwebte und die Coltesti-Berge langsam verschwanden, war sie wirklich entre mondes, zwischen den Welten. Während die Menschenreihe sich langsam durch die Gänge schlängelte, konnte Molly gelegentlich einen Blick durch eine der Kabinentüren aus den Bullaugen werfen. Linker Hand bedeutete dies einen detaillierten Blick auf die Oberfläche der Coltesti-Steilwand, rechter Hand eine blaue Scheibe, die mit jedem Blick etwas dunkler zu werden schien.
Molly bemerkte, dass die meisten der Menschen hier unten aufgeregt waren. Kinder liefen an ihr vorbei, streiften gelegentlich ihre Hand, vertieften sich dessen ungeachtet jedoch lieber in ihr Spiel als in die unangenehmen gesellschaftlichen Konventionen einer Entschuldigung. Die Damen spielten an ihren Ohrringen, zupften die Rüschen zurecht, taten einen Schritt vorwärts, klapperten mit den Schuhen, schnippten wieder gegen ihr Ohrläppchen und gelegentlich hörte sie eine Zunge scharfe Obertöne aus dem Mundraum schnalzen, wenn die Ungeduld sich plötzlich entlud.
Die Herren dagegen nestelten an ihren Lederhandschuhen, die in Transsilvanien im Moment ein unbedingt zu besitzendes Accessoire waren, zogen sie an, wieder aus, drehten die Finger, rückten Hüte, Kragenbänder und Fliegen, bis sich die Knoten langsam auflösten und klapperten ebenfalls mit den Schuhen.
Oder mit den Koffern. Der Mann vor Molly klopfte mit den Fingern einen ruhigen Rhythmus auf sein Gepäck, hielt die Füße still und schien um die Strapazen zu wissen, die er seinem Querbinder damit ersparte, dass er seine Gedanken der Musik widmete. Überhaupt war er als einziger in Mollys Blickfeld nicht in den modischen Herbsttönen gekleidet. Er trug einen schwarzen Frack, dazu einen Kummerbund in rot und einen Chapeau Claque in der freien Hand, mit der er sich gleichzeitig auf einen Gehstock stützte.
Seine mittellangen schwarzen Haare trug er vornehm, aber unüblich für diesen Teil der Welt, mit Pomade akkurat zurück gekämmt.
Hätte sie nicht gewusst, dass Besatzung und Personal schon längst ausnahmslos an Bord gewesen waren, als der Kapitän seine Ansprache gehalten hatte, wäre sie davon ausgegangen, dass dieser Herr zur Schiffskapelle gehörte, doch dem konnte nicht so sein. Also war er ein Passagier. Aber was für einer?

Außer dem lockeren Klopfen seiner Finger ging weder Bewegung noch Geräusch von dem seltsamen Mann aus. Dafür schien er eine unheimliche Ruhe auszustrahlen, die, obschon sie niemanden um ihn herum erfassen konnte, doch merkwürdig greifbar schien für denjenigen, der sich nur einige Sekunden auf sie einließ.
„Was starrst du denn an, Molly?“
Ohne dass sie es bemerkt hatte, war die Pilotin aus der Ukraine hinter ihr aufgetaucht. Molly drehte sich überrascht um.
„Oh, Sie sind es. Ich dachte, Sie beziehen eines der Quartiere auf dem A-Deck.“
„Wieso dachtest du das?“
Molly warf zögernd einen Blick auf die weißen Seidenhandschuhe, die aus den Taschen der offensichtlich sehr teuren Fliegerjacke heraus hingen.
„Na ja, Sie sind so, wie soll ich sagen...“
„Vornehm?“ Die Pilotin lachte. „Oder meinst du 'gut gekleidet'? Nein, ich bin auf dem C-Deck untergekommen, eine ganz normale Einzelkabine mit Nasszelle. Blick nach Backbord, zwei Bullaugen und eine Matratze mit Federkern. Ich sehe nur nach mehr aus, als ich bin.“ Ihr Lachen wurde zu einem müden Lächeln, und das Leuchten ihrer Augen verschob sich ein wenig mehr in die Ferne. „Die Jacke gehörte meinem Bruder. Er hatte noch eine davon, aber die trug er, als er entführt wurde.“
„Entführt?“ Molly riss die Augen entsetzt auf.
„Ja. Er war als Lotse auf der Dnipropetrol angestellt.“

Die Warteschlange schob sich einige Meter vorwärts.
„Die Dnipro?“ Fragte Molly. „Ich habe davon gehört. Das war eine Handelsstadt, es gab eine Katastrophe oder sowas. Das war vor meiner Geburt, oder?“
„Ja. Das ist ein riesiger Versorgungstrailer gewesen, er schwebte in der Ukraine über Dnipropetrowsk. Die Menschen sprechen von der Dnipro, nicht von der eigentlichen Stadt am Boden, einfach, weil sie viel wichtiger war. Es gab einen eigenen Marktplatz, wodurch die Dnipro nicht nur interessant war für große Fracht-Aguillatoren, die Auftanken mussten, sondern auch für die fliegenden Händler aus Athen und Bombay. Mehr als dreitausend Arbeiter sorgten dafür, dass die Luftschiffe mit Kohlen, Diesel und Wasser versorgt wurden. Die Plattform schwebte in fünftausend Fuß Höhe über der Stadt, Schlauchleitungen verbanden sie mit dem Boden und ein Ballonaufzug schaffte neue Kohlen nach oben. Es war ein Anblick, den niemand vergisst, der auch nur einen flüchtigen Blick auf die Dnipro geworfen hatte. Man sagt, kein Sturm der Welt hätte die Dnipro auch nur einen Fuß verrücken können. Die Steuerkanzel befand sich in der Mitte der Plattform, sie markierte das Zentrum, und sie bestand aus einem System von Glaslinsen, mit denen eine Peilmarkierung auf dem Boden fokussiert wurde, und die Position wurde laufend korrigiert. Nichts konnte die Dnipropetrol bewegen. Bis eines Nachts die Piraten auftauchten. Es stürmte, Gewitter und Regen zwangen die Arbeiter, ihr Ölzeug anzulegen. Es waren zu wenig Soldaten stationiert, die im Falle eines Angriffs die Plattform verteidigen und eine ordentliche Evakuierung hätten organisieren können. Mein Bruder hatte die Nachtschicht und lotste die ankommenden Luftschiffe mit seinem Agrarflugzeug zu den Ankermästen, die ihnen zugewiesen wurden. Er war sicher schon ein paar Stunden geflogen und etwas unaufmerksam, und niemand wusste hinterher genau, woher sie kamen. Sie steuerten mit ihren Aguillatoren von drei Seiten die Ankermäste an. Manche sagen, es wären drei gewesen, einige sprechen von fünf oder sechs, ich weiß es genau so wenig. Die Dnipropetrol bot wenig Gegenwehr.“
„Aber sie müssen sich doch verteidigt haben!“ Warf Molly ungläubig ein. Sie hatte die Geschichte noch nie so detailliert gehört.
„Natürlich muss ihnen klar gewesen sein, dass sie angegriffen wurden, als Luftschiffe ohne Erlaubnis ankerten, doch wie gesagt – es waren zu wenig Soldaten da, um alle Aguillatoren zu umstellen, und nur eine Handvoll der Geschütze war bemannt, doch ich glaube nicht, dass überhaupt jemand geschossen hätte. Die Piratenschiffe müssen vollgestopft gewesen sein mit Waffen und Munition, und bei all dem Diesel auf der Plattform... Sie wurden überrannt. Mein Bruder muss etwas gemerkt haben, vielleicht gab es einen Alarm, als die Dnipro zum ersten Mal seit ihrer Ausrichtung über Grund von der Peilmarkierung abwich, oder es wurde ein Signalfeuer entzündet. Er flog zurück und landete. Was dann passiert ist, kann ich nur mutmaßen. Er wird gekämpft haben, und sie werden ihn gefangen genommen haben. Vielleicht wollten sie ihn zwingen, sich ihnen anzuschließen, oder sie wussten nicht, was sie sonst mit ihm anfangen sollten, doch seine Leiche wurde nicht gefunden, und er ist nur einer von etwa einem Dutzend Menschen, die seit der Dnipropetrol-Katastrophe vermisst werden.“
„Leichen?“ Fragte Molly. Sie lauschte gebannt und bekam kaum noch mit, wie sie Schritt für Schritt vorwärts gingen.
„Ja. Etwa die Hälfte der Menschen an Bord – Gäste, die den Sturm abwarteten, Händler, Arbeiter, Offiziere und Soldaten – konnten mit den Ballonaufzügen auf den Boden fliehen, doch die Aufzüge kamen nicht zurück, die Auftriebskörper wurden abgeschossen. Es kann nicht anders passiert sein, denn die Steuerung für die Aufzüge befand sich auf der Plattform, und die Ballons kamen automatisch nach oben. Damit war der Rest von ihnen gefangen. Die Piraten plünderten, zündeten Dieselleitungen an, ermordeten die Soldaten und beluden ungehindert ihre Schiffe. Und dann trennten sie nach und nach die Auftriebskörper der Dnipro, bis sie solch eine Schlagseite hatte, dass sich niemand mehr an Bord halten konnte. Verstehst du? Sie fielen einfach aus dem Himmel, einer nach dem anderen musste zusehen, wie die Leute neben ihm sich nicht mehr halten konnten und abrutschten, bis sie einander folgten. Anderthalb Kilometer im freien Fall. Und schließlich stürzte die Dnipro selbst ab und begrub sie alle unter sich.“
Mollys Augen waren feucht geworden.
„Das Schlimmste war, dass kaum jemand die Katastrophe in der Nacht bemerkte. Es war ein solcher Sturm, dass man nichts sehen konnte, und niemand sorgte sich wegen der fehlenden Telegrafieverbindung. Den wenigen, die kamen und riefen, die Dnipro sei abgestürzt, schenkte man keinen Glauben, im Gegenteil, man lachte sie aus. Ein trauriges Ende für eine florierende Handelsstadt. Für die einzige Handelsstadt, die es in den Himmel schaffte.“
„Und zugleich der größte Schaden, den die Piraten jemals angerichtet haben.“ Sagte eine ruhige Stimme vor ihnen. Der Mann im Frack, der inzwischen seinen Koffer in der Hand hielt, anstatt darauf zu trommeln, drehte sich um. Er trug eine Sehhilfe im linken Auge, ein mechanisches Monokel, das die Linse seines Augapfels ersetzte.


Anmerkung von bluedotexec:

Ob das ein wichtiger Nebencharakter wird?

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