Kleines Lexikon romantischer Posen - heute: das "Unaussprechliche"

Essay zum Thema Literatur

von  toltec-head

Es stellt sich jemand auf die offene Bühne und sagt: "Ich werde nun vom Unaussprechlichen reden." In Internetliteraturforen geschieht derlei Unredliches jeden Tag. Schließlich gehört das sogenannte Unaussprechliche genau wie die "Sehnsucht" und die "Einsamkeit" zum Standardrepertoire jedes weichgespülten Neo-Romantikers. Ja, das "Unaussprechliche" gehört nicht nur zum Standardrepertoire, mit ihm rühren wir an das Wesen neo-romantisch weichgespülter Dichtung überhaupt. Denn, nach was sollte sich der Neo-Romantiker sehnen, wenn nicht nach dem "Unaussprechlichen"? Und wie ließe sich auf der Bühne, auf die man sich ja bewusst gestellt hat, der neo-romantische Eindruck der Einsamkeit wahren, wenn nicht dadurch, dass man im "Unaussprechlichen" versinkt?

Das, wovon man heute noch als Angestelltenexistenz mit Bestimmtheit dichten könnte, das, womit die Einsamkeit der Angestelltenexistenz zu tun hat, ist natürlich, und jeder weiß das, mit dem unschönen Wort  "Ficken" verbunden. Eine Angestelltenexistenz, die vom Ficken dichtet, will der weichgespülte Neo-Romantiker aber gerade nicht sein. Das, wovon er mit Bestimmtheit etwas sagen könnte, denn schließlich ist er genau dies: eine Angestelltenexistenz, die mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade an das eine denkt, das ist für den Neo-Romantiker sozusagen das wirklich Unaussprechliche. Und weil er von dem für ihn wirklich Unaussprechlichen nicht sprechen möchte, setzt er an dessen Stelle das unbestimmt Unaussprechliche, das neo-romantisch Unaussprechliche, die Sehnsucht, die Einsamkeit, die nicht mit dem Ficken zu tun hat, sondern mit nichts Bestimmten. Man sollte meinen, hiervon ließe sich nicht viel sagen. Das Gegenteil ist der Fall. Es lässt sich, wie jedes Internetliteraturforum beweist, jeden Tag aufs Neue in Masse etwas davon sagen.

Man wird einwenden, viele Internetliteraturforendichter seien doch Rentner oder Hausfrauen oder beides, die nicht mehr ans Ficken dächten. Es gibt aber viele verschiedene Formen des Penetriertwerdens. Ausdruckswelt ist nur ein anderes Wort für Penetriertwerden. Der Ausdruck ist immer aggressiv. Wie viel Aggression steckt noch in einem so harmlosen Satz wie "Wovon man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen", der, wenn man ihn recht liest, jeden neo-romantisch weichgespülten Forendichter zum Verbrecher stempelt? Die Ausdruckswelt. Wie selten sind die Tage, wo man in einem Internetliteraturforum on geht und einen Text der Ausdruckswelt liest. Der Welt, die nicht nett ist, die beißt, die, dich fickt - und ausgedrückt eine Erlösung ist.

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Kommentare zu diesem Text

parkfüralteprofs (57)
(01.04.14)
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 Rudolf (01.04.14)
Zitat aus dem Tao Te King:

Der Wissende redet nicht.
Der Redende weiß nicht.
Patroklos (36)
(01.04.14)
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 Regina (01.04.14)
Wer was weiß, der sagt nichts. Wer was sagt, der weiß nichts. Geht auch mit Schreiben. Dein Text gefällt mir.

 Dieter Wal (03.04.14)
Angestelltenexistenz

Franz Kafka führte eine. Wer den Begriff im oben genannten Sinn verwendet, hat nie Kafka gelesen. Bedauernswert.

 toltec-head meinte dazu am 04.04.14:
Du wolltest wohl schreiben, Kafka nie verstanden. Ist das Kafka dort auf deinem Arm?

 Dieter Wal antwortete darauf am 04.04.14:
Sarrazin, aus!

 toltec-head schrieb daraufhin am 04.04.14:
Es ist ein in sich und dadurch beeindruckender Junggesellenhaushalt, in dem auf nebensächliche Weise noch Frau und 2 Kinder herumtorkeln, sie wirken fasst wie "passiert", weil eben auch ein so ganz in seinem Intellekt-Kokon eingepuppter Mann wie K. wohl gelegentlich den "Drang der Natur" verspürt haben muß. Auch Kafka hat gefickt.

Raddatz. Tagebücher 2002-2012, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 2014, S. 154
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