Unterbrechung

Erzählung zum Thema Beobachtungen

von  tulpenrot

Die Musik lockte uns, der Gedanke an Kuchen und Kaffee auch. Das war verführerisch. Wir hatten bisher nur an unsere Prüfungen gedacht. Es war jedenfalls nicht geplant, dass wir hingingen.  Ich hatte ein schlechtes Gewissen, nicht nur wegen der nun fehlenden Zeit, die wir für anderes nötig brauchten, sondern auch wegen meiner rundlichen Figur.

Dennoch setzen wir uns an einen Biertisch unter dem regennassen Schirm zu einem Ehepaar. Ich esse Käsekuchen, du hast dir Erdbeerkuchen ausgesucht. Wir trinken starken schwarzen Kaffee und hören den Musikern zu. Du schaust mich prüfend an.
„Nein, du bist nicht fett“, sagst du, „da gibt es ganz andere. Du hast nur den zu den Ohrsteckern passenden Schmuck vergessen.“ Du lächelst mich freundlich an. Die Sonne scheint zwar, doch ist es regnerisch und kühler geworden, und es fahren weniger Autos auf der nahen Straße, weil es Samstagabend ist.

„Die Frauen sind heilig“, sagt der Redner und Sänger vorne auf der Bühne. „Man betet sie an“, sagt er und singt ein melancholisches Liebeslied. Die heiligen Zuhörerinnen tragen tänzelnd ihren Kuchen oder ihre Bratwurst zum Tisch, schaukeln die Köpfe. Sie lächeln mit nach innen gerichtetem Blick und stopfen gedankenverloren den Kuchen, das Brot, die Wurst, den Salat in die schon vollen Backen. Zwischen ihnen sitzt ein freundlicher älterer Zuhörer. Er trägt vermutlich teure Jeans mit absichtlich eingearbeiteten Gebrauchsspuren, mit dünnen löchrigen Stellen und Flecken an den Hosenbeinen. Das Hemd spannt über dem Bauch. Er ist aufgequollen unter der Menge von Bierschaum und Braten. Aber er fühlt sich sichtlich wohl mit seiner blonden Frau neben ihm. Sie reden und lachen und essen und trinken. Hören sie eigentlich auf die Musik? Ich kann es mir nicht vorstellen. Die Jeans ist eigentlich sauber. Der Fleck über dem Knie ist ja nur aus Trotz da. Und die Knöpfe halten das Hemd über dem Bauch zusammen, wie sie es immer taten, auch als er schlanker war früher einmal.

Die Musiker spielen einen sonderbaren Stil. Vielleicht eine Art Folklore im modernen Gewand? Jedenfalls sprechen sie keine Mundart, nur ein gebrochenes Hoch-Deutsch. Man hört kaum zu, sondern redet gegen die Musik an, lacht, trinkt, raucht, isst und klatscht Beifall – doch wofür? Man gibt sich wenig Mühe beim Lächeln und Klatschen. Der Sänger sollte nicht so viel rauchen. Seine Stimme leidet schon. Seine Liedertexte und Melodien bleiben in den Anfangsschuhen stecken. So kann er kaum vorankommen, geschweige denn gut singen.

Der Mann am Tisch gegenüber hat eine Narbe am Kopf, vielleicht auch eine in der Seele. Er ist mit dem Geschäftsinhaber, der das Sommerfest in seinem Salatladen ausgerichtet hat, gut bekannt. Sie reden vertraut mit einander und lachen viel. Das ist gut für die Narben. Neben dem Geschäftsinhaber sitzt seine Frau. Sie ist zu klein und dunkel geraten und zu rund für seine langen Beine und schmalen Hüften und seine weiße Haut. Sie kam wohl mit den Auberginen, Apfelsinen und Artischocken hierher nach Deutschland. Ihr Sohn lehnt sich an sie. Erdbeerweich. Ich würde gerne einmal mit ihren dunklen Augen lesen, lieben und lachen und weinen.

Die Kaffeezeit ist vorüber. Nun trinkt man Sekt und Bier und Wein. Die Kuchenzeit ist vorüber, nun isst man Wurst und Salat. Der Senf dazu muss ein besonderer sein. Auch die Salatsoße. Ich jedoch esse nur langsam meinen Käsekuchen.

Die Musik gibt den Takt vor für die Zeit, während der wir hier sitzen und lauschen. Es regnet wieder auf die Schirme. Wir hocken darunter und haben dunkle oder helle Augen, einen geschlossenen oder offenen Mund, haben Worte oder keine Worte.

Du bist schon mal wegen der Prüfungen vorausgegangen, nach Hause, ich bleibe zurück und fürchte mich vor der Vielrednerin. Hoffentlich kommt sie nicht an meinen Tisch. Ich habe zu oft mit Leuten zu tun, deren Worte so reichlich sind wie die Haare auf den Zähnen der Weibsbilder oder auf der Brust der Mannsbilder. Man mag weder hinschauen noch hinhören. Es ist grauenvoll. Ich beuge mich über meinen Schreibblock und schiele auf die Pfützen seitwärts von meinen Füßen. Zum Glück hat sie mich nicht gesehen, sondern setzt sich an einen anderen Tisch zu anderen Leuten. Man setzt sich ja üblicherweise zu denen, die man sowieso schon kennt und schaut nicht nach links oder rechts. Ich bin für sie unsichtbar und dafür dankbar.

„Haben Sie hier reserviert?“ Die fremde Fragende zeigt auf meine Handtasche und den Schirm auf der Bank neben mir. „Nein“, sage ich. Daraufhin schiebt sie sich selbstbewusst zwischen mich und das schon sitzende Ehepaar und setzt sich. Wir sind nun 4 Leute auf einer Bank. Das ist eng. Als ob es sonst keinen weiteren Platz mehr gäbe. Dabei sind gar nicht alle Bänke besetzt. Seltsam. Den nassen Schirm lasse ich bewusst zwischen uns liegen, nehme nur meine Handtasche auf den Schoß. Ich sitze ganz am Rand, neben der Pfütze.

Ich schweige, versuche zwischen all den Stimmen die Musik herauszuhören und blicke gedankenverloren auf den glattrasierten Kopf des Mannes mit der Narbe und der teuren Jeans, betrachte seine edle Loden-Jacke, das teure Brillengestell, seine freundlichen Augen und das bärtige Gesicht. Er wippt im Rhythmus. Um ihn herum gibt man sich verständig und gebildet, nickt und lächelt wissend. Der Preis sei hoch, sagen sie. Und ich denke, für alles ist er hoch: für die Hemden und Jacken, für die Jeans, für die Kunst, die Wurst, den Salat und den Kuchen samt Kaffee und für eine gute Prüfung. Für alles müssen wir bezahlen, selbst, wenn wir unsere letzten Schritte machen oder auf Händen gehen und auf dem Kopf stehen. Wie hohl doch unsere Stimmen oft klingen, wie schrill und durchdringend, wenn wir den Preis bemessen und uns das Bezahlen schwer fällt, wie gläsern unser Blick dann ist. Es gibt schwere Zeiten. Doch woher kamen die guten Zeiten? Und wohin gehen sie, wenn sie gegangen sind? Die Luft ist lau und feucht.

Mit lautem Hup - Getöse fährt eine Kolonne geschmückter Autos an meinen Gedanken vorbei. Man bringt Braut und Bräutigam ins nächste Lokal zum Feiern in weißem Brautschmuck. Dort werden sie lange tanzen. Die Trauung in der Kirche um die Ecke fand ohne uns statt. Die Braut ist noch jung und charmant, ihr Haar geschmückt mit einem Schleier und Steinen aus Sonne und Glut. Sie sitzt in einem Oldtimerbus. Und ihre Gäste haben versprochen, ihr Glück zu begleiten und die dunklen Seiten des Lebens zu vertreiben.

Wenn die Straße unser Zuhause bliebe, könne man sich nicht verlaufen, sagt der Sänger zu uns und singt sein letztes Lied, bevor der Husten ihn bremst. Er geht von der Bühne. Doch ich bleibe. Meine alten Finger schreiben Geschichten aus Regentropfen und Schnüren. Nachher werde ich auch ein wenig singen, wenn ich alleine bin, und auf dem Cello einen dunklen Unter-Ton streichen. Aber wirklich nur kurz. Die Zeit der Prüfungen lässt nicht mehr zu.


Anmerkung von tulpenrot:

autobiografischer Text, doch ich spiele kein Cello

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (30.06.14)
Gern gelesen. LG

 tulpenrot meinte dazu am 30.06.14:
Das ist gut, Danke, lieber Armin und viele Grüße
Angelika

 Jorge (26.07.14)
Was man alles an einem Biertisch an einem verregneten Tag beobachten kann. Interessante Bilder laufen da ab.
Liebe Grüße
Jorge

 tulpenrot antwortete darauf am 26.07.14:
Das ist aber nett, dass du hier vorbeigeschaut hast, Jorge. Danke für deinen Kommentar und das Sternchen! Es macht mir Spaß, so mit dem Schreibblock unter den Leuten zu sein, sie zu beobachten und die Gedanken laufen zu lassen, sodass eine lebendige Szene (hoffentlich) entsteht - leider komm ich viel zu selten dazu. Den Mann hab ich vor ein paar Tagen wieder in einem gut geführten Restaurant gesehen, mit seiner Frau und einer Bekannten. Zu meinem Erschrecken waren aber seine Frau und auch die Begleiterin grauhaarig und nicht blond - aber ich lass es im Text so (künstlerische Freiheit). Liebe Grüße
Angelika
Jonathan (59)
(02.08.14)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 03.08.14:
Lieber Jonathan,

jetzt falle ich doch gleich von der Bierbank - wenn DU auch noch als fünftes Mensch anstelle des nassen Schirm dich dazwischenklemmst. Dann liege ich nämlich in der Pfütze - wolltest du das? Nein. Trotzdem bin ich gefallen: ganz beschämt und aus allen Gewitterwolken - vor lauter Überraschung und Freude! Gerade scheint hier auch die Sonne. (in echt). So ein schöner Kommentar samt Sternensegen! DANKE!!! Das spornt an.
Bei meinem nächsten Buch musst du den Klappentext schreiben - oder eine Rezension oder so - oder überhaupt.

Herzliche Grüße
Tulipane
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