Literatur darf auch mal anstrengend sein.

Essay zum Thema Literatur

von  Sekundärstille

Die berechnete Erzählung. Ein Buch, das komplett an die vermeintlichen Wünsche des Lesers angepasst wurde. Spannung da, wo der Durchschnitt vorher die Lektüre abgebrochen hat, eine Kürzung an der Stelle, an der viele Leser schnell übersprungen haben. Vielleicht auch eine ausgebaute Handlung, wo die Mehrheit im Kindle digitale Markierungen eingetragen hat. Klingt doch wunderbar. Oder?

Aber ganz der Reihe nach. In seinem Feuilletonbeitrag „Die berechnete Erzählung“ (Süddeutsche Zeitung 12./13. Juni 2014) beschreibt Johannes Boie die aktuellen Strömungen des Kulturbetriebes. Da gibt es zum Beispiel eine Liste des Wall Street Journals, „Piketty Index“ getauft.
Ein Ranking für Bücher, die bereits nach kurzer Lektüre wieder aus der Hand gelegt werden, die nicht zu ende gelesen werden.
Die Daten zu erfassen, wer wann und wo aus einem Buch ausgestiegen ist, geht einfach: durch Auswertungen der Statistiken von Amazons Kindle. Das Gerät gibt beispielsweise Informationen über markierte Seiten an Amazon weiter oder wenn ein Buch von dem E-Reader gelöscht wird.

E-Reader wie Amazons Kindle, sind wohl in Zukunft ein fruchtbarer Quell für Statistiker aller Art.
Denn neben den Seitenmarkierungen wird es wohl auch möglich sein, die Verweildauer pro Buchseite oder die Dauer einer „Lesesitzung“ an Amazons Server zu übermitteln.

Von Boie beschreibt in seinem Artikel nicht nur die Auswirkungen der Nutzungserfassung von E-Readern, sondern auch im Bereich der Musik-Streaming Dienste oder Videoportale. 
So könnte es wohl bald möglich sein, auf einem neuen Album statt drei Hits und neun guten Songs „drei Megahits und neun Hits“ zu präsentieren -dank genauer Auswertung des Hörgeschmacks der Konsumenten.

Wenn früher ein Buch nicht gelesen wurde, oder schnell im Regal verschwand, war das Privatsache, die sich natürlich in den Verkaufszahlen bestimmter Titel auf Dauer abgezeichnet hat. Heute oder morgen wird es vielleicht gar nicht mehr dazu kommen. Denn Boie fragt bereits „warum etwas produziert werden soll, was nicht konsumiert wird.“

Für Händler und Verlage mag das natürlich verlockend klingen: ein Buch so zu gestalten, dass es dem Wunsch des Lesers entspricht. Dass es eventuell, nach Veröffentlichung, noch angepasst werden kann, weil hier und dort Leser eine Stelle nicht spannend finden.

Aber was bedeutet dieser Wandel für Autoren, allgemeiner, für den Literaturbetrieb?
Warum muss ein Buch zu 100 Prozent gefällig sein? Darf es keine Stellen geben, die vielleicht etwas langweilen?
Auf die Idee, die Verweildauer von Besuchern in Museen vor einem einzelnen Bild aufzuzeichnen, kommt auch niemand. Es wäre durchaus konsequent dann Bilder abzuhängen, vor denen der Durchschnitt nicht lange genug stehen bleibt.

Und sollen Autoren dann Textstellen anpassen? Um dem Leserdurchschnitt ein gefälliges, unproblematisches Vergnügen zu bereiten?
Wenn wir die Strömungen betrachten, läuft alles darauf hinaus, es dem Konsumenten so leicht wie möglich zu machen.
Erwiesenermaßen trifft das auf eine immer geringer werdende Aufmerksamkeitsspanne des Menschen. Texte, die schnell am Smartphone abgerufen werden können, die nur überflogen werden. Das heißt dann wahrscheinlich auch: wird mir ein Buch zu langweilig höre ich sofort auf.

In diesem Zusammenhang denke ich gerade an Bücher, die ich für mich zumindest, eher weniger spannend fand. Zum Beispiel „Stiller“ von Max Frisch. Ich muss zugeben, zum Ende hin geneigt gewesen zu sein, einige Seiten zu überspringen. Ich habe es dennoch gelesen und finde das Buch trotz der geringeren Spannung wunderbar. Wäre „Stiller“ eine Neuerscheinung, vielleicht hätte Max Frisch dann nachbessern müssen?

Ich denke einfach, dass nicht alles perfekt sein muss, dass nicht alles passen muss, auch mal mühsam sein kann. Dass ein Buch nicht unbedingt davon lebt, meinen Erwartungen immer zu entsprechen, mich immer dort abzuholen, wo ich mich befinde. Literatur kann und darf auch anstrengend sein.
Genauso wie Kunst oder klassische Musik.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(14.07.14)
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B-Site (30)
(14.07.14)
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 EkkehartMittelberg (14.07.14)
Ich stimme dir zu. Wenn Literatur nur unterhält und nicht wenigstens teilweise anstrengend ist, fordert sie ihre Leser nicht heraus und bingt ihnen keinen neuen Erkenntnisgewinn. In einem anspruchsvollen Roman zum Beispiel wird es jedoch immer wieder unterhaltsame Passagen geben, die den Leser bei der Stange halten.
Gruß
Ekki

 Sekundärstille meinte dazu am 19.07.14:
Hallo!
Vielen Dank für eure Kommentare! Ich sehe diesen Trends gerade bei Amazon sehr kritisch entgegen. Habe jetzt auch erfahren, dass Amazon manche Bücher von Verlagen einfach aus dem Sortiment nimmt etc. Dass ein Händler so massiv einen Markt kontrollieren will, ist nicht zu unterstützen.
Andererseits kann man sich nicht entziehen. Ein befreundeter Autor hat jetzt seinen Krimi z.B. zwar bei Gmeiner untergebracht, aber erstmal "nur" als Ebook, wer also das Buch lesen möchte MUSS das am PC oder Kindle tun.
Nunja, dieses Thema wird uns wohl beschäftigen.

 Untergänger (19.07.14)
trotz allem würde ich gerne mal wissen, was für ein Buch dann unter "optimal" fällt.
Twilight oder Harry Potter?

Noch interessanter wäre es natürlich zu wissen, wie viele der Bücher nicht wegen langer Weile sondern aufgrund eines zu hohen Anspruchs weggelegt werden... und wie hoch dieser Anspruch für ein optimales Verkaufsergebnis wäre.

mömmel,
Alfons

 Vessel (02.12.15)
Darüber hatte ich bei der Zeit gelesen und war überrascht, der Tenor war ein ähnlicher wie bei dir: Angst vor dem Wegfallen langatmiger Bücher mit einem diffusen Anspruch.
Nun, denke ich: Natürlich muss das so passieren. Die Popmusik ist schon längst dort, das Kino, das Fernsehen und, ganz sicher die Malerei, wo blödes Geschmiere zu irgendwas hochstilisiert wird.
Wir werden in Zukunft also eine Schwemme humoristischer Krimis erleben. Ach halt, die ist ja schon da ...
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