Die betrogene Anmut

Erzählung

von  EkkehartMittelberg

Der geneigte Leser weiß vielleicht, dass die Anmut gerne in die Seelen naiver Menschen schlüpft und ihnen ein bezauberndes Lächeln und fließend schöne Bewegungen verleiht. Diese Menschen sind mit sich im Einklang  und wirken in einer hektischen Welt betörend gelassen, weil keine Eitelkeit sie zur Selbstbespiegelung verführt, die Unsicherheiten hervorbringt, die sie überspielen müssten. Sie ruhen in sich selbst und wirken dennoch durch ihr gelöstes Wesen lebhaft.

Die Anmut war ausgeglichen, so wie es ihre wenigen Geschöpfe auch waren, und sie begnügte sich damit, die Welt mit ihren leichtfüßigen Wesen zu beglücken.

Doch die selbstgenügsam Glücklichen haben schon immer Neid geweckt und schon bald regte sich die Missgunst der Eitelkeit, die sich auch in den Seelen der Menschen einnistete und sie zu formen trachtete. Ihre Geschöpfe hatten meistens nur kurzen Erfolg und wurden von der Welt durchschaut, die, selbst eitel, sich in ihnen wiedererkannte und sie bald entlarvte. Die Eitelkeit wusste, dass sie nicht fähig war, sich zu ändern, aber wenn ihr schon kein bleibender Erfolg beschieden war, wollte sie doch wenigstens die Anmut auf ihre Stufe herunterziehen.

So besuchte sie die Anmut, schmeichelte ihr und sagte, dass es viel zu wenig Anmutige auf der Welt gäbe, die ja bekanntlich Glücksbringer seien. Es sei die Pflicht der Anmut,  mehr Anmutige zu schaffen und so mehr Glück zu verbreiten, als sie es bisher täte. Gegen Glück fand die Anmut kein Argument und so fragte sie schließlich arglos, wie sie zur Vermehrung des Glücks beitragen könne. „Deine Gestalten sind ja recht schön“, sagte die arglistige Eitelkeit, „ aber es fehlt ihnen der Ehrgeiz. Wenn sie ihre Bewegungen, ihre Mimik und ihre Sprache  mit Bewusstsein kontrollieren würden, wären sie noch weitaus wirkungsvoller, sie könnten sich steigern wie Künstler, die an sich arbeiten.“ Die Anmut, die sich bis dahin reflexionsfrei verschenkt hatte, fand dieses Argument bestechend, und sie fragte nur, wie denn ihre Gestalten diese Perfektion erreichen könnten. „Eigentlich ist das nicht so schwierig, entgegnete die Eitelkeit, sie können vor dem Spiegel trainieren oder zum Beispiel ihr Lächeln und ihre Bewegungen auf die Situation abstimmen, immer wieder etwas anders. Wenn die Welt erst erfährt, dass Anmut lehrbar ist, wirst du, Charis, als die größte aller Göttinnen verehrt werden.“

Die Anmut kannte sich mit hinterlistigen Schmeichlern nicht aus, bedankte sich bei der Eitelkeit und gab deren Empfehlungen in ihrer Naivität ungeprüft an ihre Geschöpfe weiter.

Was musste sie da erleben. Die Anmutigen, arglos wie ihre Meisterin, folgten lernbegierig deren Anweisungen und je mehr Bewusstsein sie für ihre Bewegungen und ihre Sprache einsetzten, desto linkischer, aufgesetzter und unechter wurden sie. Man kann freilich nicht sagen, dass alle früheren Bewunderer der Anmut diese Deformation bemerkten, zum Beispiel jene nicht, die bei Hofe und in der High Society verkehrten. Sie priesen die Verwandlung der Anmut zur Galanterie und Courtoisie.

Die Anmut erkannte jedoch, dass sie betrogen worden war und hütete sich, die falschen Lehren der Eitelkeit an die Anmutigen weiterzugeben, darauf hoffend, dass niemand deren naives Bewusstsein korrumpieren würde.
Doch, durch ihren Fehler einmal geweckt, erkannte sie nun, warum die meisten ihrer Schützlinge mit zunehmendem Alter ihre natürliche Anmut einbüßten. Sie vermochte diese nicht immer und überall gegen die eitlen Einflüsterungen der Welt abzuschirmen.


Einige behaupten, Charis sei seitdem melancholisch geworden und könne dies nicht immer verbergen. Das mag sein, ihre wenigen Geschöpfe sind es jedenfalls nicht.

© Ekkehart Mittelberg, Juli 2014


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Die griechische Mythologie kennt zwei oder drei Chariten, lat. Grazien. Ursprünglich gab es aber nur eine Göttin Charis, die Gattin des Hephaistos.

Mein eigentliches Thema ist das Wesen der Anmut.

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Kommentare zu diesem Text

starfish8305 (55)
(22.07.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Merci starfish8305. Falls es Niveau hat, gebe ich das Kompliment an Charis weiter.
P. Rofan (44)
(22.07.14)
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Metulskie (32) antwortete darauf am 22.07.14:
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.07.14:
@Rofulskie. Ein wahrhaft anmutiger Kommentar. So leicht und betörend. Und ich dachte schon, die Anmut sterbe aus.......
Metulskie (32) äußerte darauf am 22.07.14:
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Nimbus (38)
(22.07.14)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 22.07.14:
Danke, Heike, ein anregender Kommentar, an dem mir am besten gefällt, dass Anmut bei unmanipulierten Kindern am leichtesten zu finden ist.

 Regina (22.07.14)
Der Inhalt erinnert mich an das anmutige Schneewittchen und die böse Königin Eitelkeit.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Danke, Regina, der Vergleich zu diesem Märchen liegt nahe.
LottaManguetti (59)
(22.07.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Lotta, deinen stilistischen Vereänderungsvorschlag habe ich gerne übernommen.
Ich kann mir schlecht vorstellen, dass man Anmut heute anders definieren kann, als ich es in meiner Erzählung getan habe, wenn man nicht mit den Definitionen von Galanterie und Courtoisie in Konflikt geraten will.
Mich bekümmert es wenig, dass es Leser gibt, die das Überdauern der Anmut wenig interessiert. Solche hat es immer gegeben.
Merci für deine Empathie.

Liebe Grüße
Ekki

 irakulani (22.07.14)
Mit deiner Geschichte hast du wunderbar das Wesen der Anmut beschrieben, lieber Ekki. Anmutig sind die Geschöpfe in der Regel so lange, wie sie sich ihrer Anmut nicht bewußt sind. Sobald ein Bewußtsein darüber entsteht, ist die Eitelkeit kaum mehr abzuwehren. Ich erinnere mich an einen anderen Text von dir zu diesem Thema, wo du diese (unbewußte) Anmut und Natürlichkeit anhand eines jungen Mädchens beschreibst. Offenbar setzt die Anmut eine gewisse naivität (im besten Sinne!) voraus.

L.G.
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Merci, Ira. Der Verlust der Anmut ist so schwierig nicht zu verstehen. Dennoch ist er Missverständnissen ausgesetzt. Deshalb bin ich froh, dass du noch einmal das Wesentliche auf den Begriff gebracht hast, Ira.
LG
Ekki
Pocahontas (54)
(22.07.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Grazie, Sigi, du hast schön beschrieben, weshalb ich an die Anmut, die in einer reflektierten, auf Verstellung hin konditionierten Gesellschaft immer seltener wird, erinnert habe.

Herzliche Grüße
Ekki

 susidie (22.07.14)
Am Anfang des Textes lag mir schon ein Widerspruch auf den Lippen - das Wort Anmut ist für mich so positiv behaftet, das Wort Naivität strahlt im ersten Moment immer negativ. Dein Text bringt aber genau diesen Widerspruch zusammen und ist wunderbar aufgebaut. Die Naivität im Sinne der Unverdorbenheit, nicht von Eitelkeiten geprägt, nicht untergehend im Strom des egoistischen Daseins.
Das Bild von Raffael vor Augen muss ich sagen - für mich eine deiner besten Erzählungen, in die ich mich jetzt eben total verliebt habe. Vielen Dank dafür, lieber Ekki.
Einen herzlichen Gruß zu dir, deine Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Grazide, Susi. Wahrscheinlich erlebt jeder mit der Einschätzung seiner Beiträge durch andere Überraschungen.
Mich freut, dass du diese Erzählung für eine meiner besten hältst, denn ich schätze sie selbst auch so ein.
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (22.07.14)
Was mir an deinem Text gefällt, ist die Tatsache, dass er Stellung bezieht und das auf eine charmante Art und Weise. So vermeidest du es elegant, den Finger zu heben.

Nur glaube ich, dass ich die inhaltlich nicht folgen kann. Natürlich kann die Anmut z.B. vor dem Spiegel wachsen. Natürlich kann Anmut trainiert und geübt werden. Versagen muss sie hingegen- und da folge ich dir -, wenn sie dem Zeitgeist folgt bzw. denen, die sich für die Wegweiser diese Zeitgeists halten.

Auf der anderen Seite geht die Anmut heute oft in der Gier der Öffentlichkeit nach 'Neuem' (das zumeist gar nicht so neu) unter, eine Tendenz, die das Netz nicht verbessert hat. Allerdings ist da die Zeit auf ihrer Seite. Vieles, was es nicht wert ist, gerät zu recht in Vergessenheit und dann findet die Anmut, heute noch vergessen, morgen wieder ihren Platz.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Lieber Trekan,
diesmal hast du ausnahmsweise vielleicht zu schnell gelesen. Die Anmut kann nicht vor dem Spiegel wachsen und sie kann auch nicht trainiert werden, weil sie durch Selbstbespiegelung mit dem Bewusstsein ihrer selbst stirbt. Diesen falschen Rat gibt die Eitelkeit ja der Anmut, um sie durch Selbstreflexion zu zerstören.
Ich will aber gerne mit dir hoffen, dass die Zeit auf Seiten der Anmut ist.
(Antwort korrigiert am 22.07.2014)
Graeculus (69)
(22.07.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Vielen Dank, Graeculus.

"Die Eitelkeit ist reflektiert (der Spiegel ist ein schönes Symbol dafür) und kommt später.
Wir können dieser Versuchung im Laufe des Lebens nicht entgehen, und niemand, der kein kleines Kind mehr ist, ist frei von ihr. Insofern hat die Hochschätzung der Anmut in der Tat etwas Rückwärtsgewandtes, aber sie wendet sich nicht zurück in ein historisches Altertum - die Menschen waren auch in der Antike eitel -, sondern zu unserer Kindheit."

Diese richtige Beobachtung trifft auf die weitaus meisten Menschen zu. In der Regel überdauert also Anmut die Pubertät nicht.
Aber es gibt einige wenige Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Nicht in der Politik und nicht im Showgeschäft, wo man ohne die Reflexion, die Anmut zersetzt, nicht überleben könnte.
Ich bin zwei erwachsenen anmutigen Menschen begegnet, die in einem relativ druckfreien Raum lebten. Sie hatten eines gemeinsam. Wenn von Intrigen und alltäglichen Gemeinheiten die Rede war, schauten sie verständnislos und entgeistert. Mir scheint, dass sie in diesen Kategorien nie gedacht haben.
Ich weiß, dass dies kein Beweis für ihr reines Gemüt ist, denn ein Skeptiker würde einwenden, dass sie sich übernormal gut verstellen konnten.

 TassoTuwas (22.07.14)
Hallo Ekki,
in einer Zeit wo alle Äußerlichkeiten "in" oder "hipp" oder "geil" sind, ist es verdienstvoll einen so schönen (altmodischen?) Begriff wie Anmut wieder einmal ins Bewusstsein zu rücken.
Deine Erzählung ist voller, schöner Bilder!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.07.14:
Ich danke dir, Tasso.
Wer Anmut für altmodisch hält, ist ihr nie begegnet. Er hat etwas sehr Schönes im Leben verpasst.

Herzliche Grüße
Ekki
gaby.merci (61)
(06.08.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.08.14:
Merci, Gaby. Ja, Anmut ist weder lernbar noch lehrbar. Das denke auch ich.
Kleist meinte, dass sie nach dem Sündenfall des Bewusstseins unwiederbringlich verloren gehe (Über das Marionettentheater). Schiller glaubte jedoch, dass man sie nach einer langen Geschichte der Entwicklung des Menschengeschlechts wieder gewinnen könne. Er nannte das den Weg von Arkadien (keine bewussste Selbstbespiegelung) nach Elysium. Er meinte mit Elysium eine Höchststufe des Bewusstseins, die frei von Eitelkeit ist.
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