Die Erziehungsmaschine.

Satire zum Thema Wahnsinn

von  Orion

Die illustre Erfinderschar war für den Fachmann und den fachlich interessierten Laien schon immer eine schier unerschöpfliche Quelle wunderlicher und abnormer Geisteszustände in allen nur möglichen Ausprägungen.
Nicht umsonst bleibt ja der „Erfinderwahn“ -eine Spielart der Schizophrenie- traurigerweise  sehr oft trotz hoher Intelligenz des Befallenen immer ohne jeden verwertbaren praktischen Nutzen, für den Befallenen selbst und auch für den Rest der Menschheit.
Einen ihrer größten Umbrüche musste die Erfinder/Forscher-Gemeinde in der Mitte des 19. Jahrhunderts hinnehmen, da zu diesem Zeitpunkt die für die Welt wirklich wichtigen und erforderlichen Dinge in den Bereichen Physik, Chemie, Medizin usw. bereits erfunden und in der praktischen Anwendung waren.
Von diesem Zeitpunkt an wurde es für die zwar mit viel erfinderischem Potential ausgestatteten aber bislang unbeachtet gebliebenen Personen sehr viel schwieriger, als Forscher oder Erfinder mit etwas wirklich Neuem zu Ansehen, Ruhm und Geld zu kommen.
Schnell wurde man – oft nicht unverdient- des Plagiats bezichtigt und dies bedeutete meist das sofortige Ende jeder noch so hoffnungsvollen Karriere.
Jetzt galt es zu überleben und, im Nachhinein nicht unerwartet, betraten nun die „Theoretiker“ die Weltbühne. 
Sie waren ohne jeden Selbstzweifel davon überzeugt, dass sie eine von der Evolution gewollte, höherentwickelte Spezies „Mensch“ darstellten, denn ihre Schöpfungen waren rein geistiger und intellektueller Natur, keines Menschen Hand musste sich zur Verwirklichung dieser Phantastereien mehr rühren.
Die totale Unfähigkeit dieser Personen,  ihr Leben, ihre Wohnungen oder auch sich selbst ordentlich und sauber zu gestalten wurde als die unabdingbare Grundlage ihrer außerordentlichen Genialität verstanden.
Die leider von vielen Mitmenschen in falsch verstandener Toleranz und Nächstenliebe für wahr gehaltene Aussage, dass „Genie und Wahnsinn dicht beieinander liegen“ verhinderte die an sich bitter notwendige Diagnostizierung und Behandlung des wahren Geisteszustandes dieser bedauernswerten Zeitgenossen.

Zu diesem Thema sind uns aus den Anfängen der Fotografie Bilder wie diese vertraut:

Männer mit wirren Haaren und schlampiger Kleidung bemalen mit aufgerissenen Augen und vor sich hinmurmelnd übergroße Tafeln mit extrem kompliziert und wichtig aussehenden Symbolen.
Männer mit wirren Haaren und schlampiger Kleidung versuchen mit aufgerissenen Augen und vor sich hinmurmelnd nur mittels ihrer Gedankenkräfte beispielsweise Fotoplatten zu belichten oder Tiere zu beeinflussen.
Der Unterhaltungswert und die Besucherzahlen von Veranstaltungen mit solchen Männern sanken jedoch im Laufe der Zeit, viele der Männer mit wirren Haaren und schlampiger Kleidung suchten und fanden daher umgehend ein neues Betätigungsfeld darin, urplötzlich von Visionen und Vorhersehungen geplagt zu werden, die sie zur Erschaffung der unterschiedlichsten Apparate und Maschinen zwangen.
Und zwar ungeachtet der technischen Fähigkeiten dieser Visionäre.

Während also in Warschau durch die Explosion eines gänzlich neu konzipierten Dampfdruckkessels anlässlich eines Versuches zur Umwandlung von Gesteins- in Weizenmehl der Erbauer des Kessels und zwei ausgesprochen gut aussehende Assistentinnen nicht unerheblich zu Schaden kamen, wurde dem Erfinder einer völlig neuen Beleuchtungsquelle in Stockholm sein Kopf während der ersten probeweisen Ausleuchtung seines Labors fast vollständig weggetrocknet.
Er hatte, ohne es zu wissen, die auch heute noch unbekannten Hyper-Infrarotstrahlen entdeckt.
Leider hatte er die entsprechenden Aufzeichnungen in einer nur ihm ganz allein bekannten, vorzeitlichen Geheimschrift angefertigt, daher bleibt sein Wissen wohl für alle Zeit unerschlossen.


Unbedingt erwähnt werden muss an dieser Stelle auch die „Erziehungsmaschine“,
erdacht und gebaut von einem englischen Volksschullehrer, auf der Grundlage eines von ihm in seiner langjährigen Unterrichtspraxis entdeckten und intensiv erforschten Phänomens. 
Er war sich absolut sicher, dass ein aufsässiger, lernunwilliger oder unflätigen Gedanken nachhängender Schüler sich mess-, sicht- und fühlbar ruckartiger bewegte als ein freundlicher, lernwilliger und nur reine Gedanken denkender Schüler.
Mit der praktischen Anwendung seiner Erkenntnisse beabsichtigte er so schnell wie möglich das englische Schulwesen und im weiteren Verlauf natürlich auch die restliche zivilisierte Welt zu revolutionieren.

Das Ergebnis seiner Untersuchungen und vieler Abende intensiver Arbeit war ein Gestell aus gefettetem, schottischem Hochland-Moorerlenholz (extrem biegsam, wasserabweisend und trotzdem kräftig federnd), welches nach der Fertigstellung entfernte Ähnlichkeit mit einem Schaukel-, Zahnarzt- oder Gynäkologenstuhl aufwies.
Innerhalb dieser Konstruktion ermöglichten spezielle, auf der Grundlage der menschlichen Anatomie basierende, variabel und individuell einstellbare Anschnall-Vorrichtungen die für die Erziehungstherapie unbedingt erforderliche extrem ruhige und entspannte Lage des zu therapierenden Schülers.
In dem die Person umgebenden Rahmen brachte der englische Volksschullehrer an genau berechneten Stellen empfindliche, aber dennoch kräftige Spiralfedern mit rindsledernen Patschen an ihrem Ende an, welche durch ein ausgeklügeltes System untereinander verbunden waren.
Nach seiner Überlegung sollte jeder unflätige Gedanke, der –so die Theorie des Volksschullehrers- ein unbewusstes Zucken bei dem sich im „Erziehungsapparat“ befindenden und entsprechend festgezurrten Zögling verursachte, sofort unter Zuhilfenahme von Hebelkräften mittels einer zusätzlich eingearbeiteten Ruckverstärkung einen empfindlichen Schlag auf die jeweilige, dem unflätigen Gedanken zuzuordnende Körperstelle auslösen.

Leider verlief der erste Selbstversuch im Kreise seiner Familie desaströs.
In der Annahme, dass sein geliebtes Herrchen sich zur abendlichen Ruhe in diese bequeme, halb liegende Position gebracht hat, sprang fatalerweise der treue Familienhund auf der Suche nach Geborgenheit in den Schoß seines entspannt und erwartungsvoll in der „Erziehungsmaschine“ befindlichen, festgeschnallten Herrchens.
Die auf feinste Bewegungen justierte Maschine reagierte aufgrund dieser Überlastung sofort mit unkontrollierten, kräftigen Schlägen auf den Volksschullehrer und den Familienhund.
Fluchtversuche des verzweifelt jaulenden Tieres wurden durch die raffinierte Funktionsweise der Erziehungsmaschine mit gezielten Patschenschlägen verhindert. Ein Teufelskreis: Je panischer die Bewegungen des Hundes wurden, desto lauter klatschten die Patschen.
Zu diesem Zeitpunkt erkannte der englische Volksschullehrer die drohende Gefahr, reagierte allerdings völlig falsch.
Anstatt den völlig aufgelösten Hund mit ruhiger Stimme zum Herunterspringen zu bewegen führte er -festgeschnallt in seiner Apparatur- panisch heftige Abwehr- und Zerrbewegungen aus, die funktionsbedingt jetzt auch ihm und dem bedauernswerten Hund immer stärkere Schläge zufügten.   
In die akustische Untermalung dieser bizarren Szene, bisher bestehend aus herzzerreißendem  Hundejaulen, andauerndem Stakkato der ledernen Patschen, unkontrolliertem Grunzen des Lehrers und leisem, rhythmischen Quietschen der Holzverbindungen, fügten sich nun –von der absurden Situation schlichtweg überfordert- die hysterischen Schreie der anwesenden, ausschließlich weiblichen Familienmitglieder ein.

Der Ausgang dieser Episode wäre für den englischen Volksschullehrer wohl weniger bemitleidenswert gewesen, hätte jemand aus dem Kreis der schreienden, zusätzlich noch ziellos im Wohnzimmer herumlaufenden weiblichen Familienmitglieder die von ihrem Verhalten ausgehende Wirkung auf den sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einer extremen Ausnahmesituation befindenden Hund bemerkt.
Bedingt durch die unaufhörlich seine Flucht vereitelnden, ihm grundlos Schmerzen zufügenden Patschenschläge baute sich im Hund eine ihm zuerst befremdliche, nach mehreren Probebissen in den vermeintlichen Verursacher dieser Pein –sein Herrchen- sich angenehm anfühlende Aggression auf, die in dem Augenblick, in dem die schrillen Schreie der weiblichen Familienmitglieder den Weg durch die Hundeohren direkt in sein Gehirn fanden, die Reste hündischer Unterwürfigkeit beiseite fegte.

Der unausweichliche Zusammenbruch des völlig überforderten „Erziehungsgerätes“ setzte nach einiger Zeit den Schreien der weiblichen Familienmitglieder und den Qualen von Herrchen und Hund ein spektakuläres Ende.
Der Hund fand winselnd und um Gnade bettelnd in die Realität zurück, aber nicht mehr den Weg ins Herz seines Herrchens und landete im Tierasyl, der englische Volksschullehrer verbrachte viel Zeit in ärztlicher Behandlung, die weiblichen Familienmitglieder litten fortan unter Ess-, Wachstums-, Beziehungs- und zu diesem Zeitpunkt noch unentdeckten Störungen und eine hoffnungsvolle englische Erfinderlaufbahn endete abrupt.

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (25.08.14)
Diese ausufernden Satzungetüme, die ich bislang nur von Gesetzestexten her kannte wie zum Beispiel:
Innerhalb dieser Konstruktion ermöglichten spezielle, auf der Grundlage der menschlichen Anatomie basierende, variabel und individuell einstellbare Anschnall-Vorrichtungen die für die Erziehungstherapie unbedingt erforderliche extrem ruhige und entspannte Lage des zu therapierenden Schülers.
...habe ich mit Vergnügen gelesen. Ein Glück, dass die Geschichte nicht so lang war, sonst hätte mein Abend mit Kieferschmerzen oder gar einer ausgerenkten Kinnlade ein abruptes Ende finden können! :D

Witzig, informativ, grandios geschrieben!

Liebe Grüße
Llu ♥

 Orion meinte dazu am 26.08.14:
Hallo Llu, "ausufernde Satzungetüme" ... find ich gut. Vielen Dank für Deinen freundlichen Kommentar. LG Achim
Graeculus (69)
(30.07.17)
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