Die Utopie einer Gesellschaft schöngeistiger Dilettanti - Nachruf auf Sebastian Giebenrath

Glosse zum Thema Literatur

von  toltec-head

An sich bietet unsere Gesellschaft höherer Bildungsabschlüsse die besten Voraussetzungen für eine Gegenwelt schöngeistiger Dilettanti im Internet. Eine x-beliebige Google-Abfrage zu einem x-beliebigen schöngeistigen Thema zeigt zwar: es gibt sie, die bloggenden Dilettanti, im Vergleich zur schieren Zahl höherer Bildungsabschlüsse sind es aber doch recht wenige. Mein Bruder studiert seit beinahe einem Jahrzehnt in Frankfurt Literaturwissenschaften und weder er, noch einer seiner Freunde bloggt. Was ich dann letztlich doch auch wieder verstehen kann, denn schließlich sind die höheren Bildungsabschlüsse nicht dazu da, dass man am Ende eine Anti-Karriere als Blogger startet. Die Geisteswissenschaften mögen als Gegenwelt zu der der Zahnärzte und Notare erscheinen, aber im günstigen Fall vermitteln sie eben doch auch eine Form von Karriere-Chance. Freilich sind die Chancen in dieser nur scheinbaren Gegenwelt der sich gern machtfrei gebenden Geisteswissenschaften in Wahrheit viel geringer als die für Zahnärzte und Notare und der Anpassungsdruck dementsprechend viel höher. Freischwebend für Trolle, Hausfrauen und Laienbrüder im Internet zu schreiben, dürfte von daher ein probates Mittel sein, ziemlich schnell im Abseits zu landen. Um zu bloggen muss man entweder ein wenig dumm sein oder mit der Gesellschaft abgeschlossen haben.

Das Phänomen schöngeistiger Dilettanti im 18. Jahrhundert beruhte nicht zuletzt darauf, dass diese ihre ökonomische Basis außerhalb ihrer schöngeistigen Tätigkeit fanden. Eine ökonomische Basis außerhalb von Funktionssystemen gibt es heutzutage aber nur noch in Form von Hartz4 und in Wirklichkeit doch auch das nicht, da die Gesellschaft unter größten Anstrengungen halbwegs erfolgreich den Betroffenen das Gefühl zu vermitteln versteht, sich in einem Trainingslager zu befinden. Als Kohorte schöngeistiger Dilettanti des 21. Jahrhunderts im Internet bleiben so eigentlich nur Freaks und Rentner übrig, die aufgrund gegenläufiger ökonomischer Interessen in Wahrheit kaum zu einander passen. Das sind keine guten Voraussetzungen für einen Internet-Salon und so erklärt sich, dass es in Foren mit schöngeistigem Anstrich ganz eindeutig mehr Elend als Glanz gibt.

Sebastian Giebenrath, der letzte Woche 72-jährig verstarb, war an sich ein Schreib-Profi, der seine Karriere bei einer überregionalen Zeitung als Feuilletonist hinter sich hatte. Trotzdem hat für mich bislang niemand, den ich in Foren getroffen habe, so sehr das Ideal des schöngeistigen Dilettanten à la Madame Pompadour verkörpert wie Sebastian, der pessoaesk noch eine Reihe weiterer echter Namen und Nicks hatte. Ich möchte gleich hinzufügen, dass ich mir den freischwebenden Intellektuellen-Blogger des 21. Jahrhunderts gerne ein wenig weniger schöngeistig, dafür aber anarchischer, verzweifelter, unvernünftiger, russisch-nihilistischer als Sebastian vorstelle. Letztlich bin ich meiner Idealgestalt des neuen Bloggers aber noch nicht begegnet und so muss ich sagen, dass eine bloggende Madame Pompadour für den Anfang doch nicht ganz schlecht ist. Auch weiß ich nicht, ob ich ohne ihn selbt gar so schnell mit dem Bloggen angefangen hätte. Dass ich überhaupt auf ihn stieß kam so: Eines Tages wollte ich googlen, ob sich im Internet etwas über ein Porträt Norbert von Hellingraths, das Rilke irgendwo beschreibt, finden ließe. Zu meiner Überraschung führte der einzige Treffer in das öffentliche Forum einer mir wohlbekannten Web-Site, gay.de. Die ein wenig täppische Bruder-Site von poppen.de ist so etwas wie das hässliche Entlein unter den schwulen Dating-Foren, die sich im Vergleich zu Hochglanz-Produkten wie gayromeo oder grindr wie deutsche schwule Porno-Heftchen der 70er zu ihren amerikanischen Konkurrenten verhält. Auch hässliche Entlein können indes einen Reiz haben, die Behämmerten sind nicht nur manchmal seliger als die coolen, sondern in gar nicht so seltenen Fällen sogar sexyer. Da ich deshalb auch bei gay.de ein Profil hatte, kam ich mit Sebastian alias Minotaurus sehr schnell in Kontakt. Er hatte das Forum zu dem seinen gemacht mit tausenden von Einträgen zu allen möglichen Themen; offenbar arbeitete er dort mit ungebremsten schwulem Fortschrittsglauben und schwuler Befreiungsrhetorik an so etwas wie einer schwulen Enzyklopädie. Zu beoachten wie er sich Anfeindungen schwul-anarchischer Bloggern russisch-nihilistischer Tendenz ausgesetzt sah und wie er sich derer erwehrte, war nicht selten höchst amüsant, auch wenn nicht immer klar war, welche Seite man selbst in der Scharmützeln einnehmen würde.

Überhaupt verband mich geistig mit ihm wenig. Hermann Hesse, dem er einen eigenen Blog widmete, halte ich für eine Lachnummer. Ich interessiere mich auch nicht für schwule Seiten des schweizerischen Rosenzüchters. So wie Hesses Esoterik im Vergleich zu der eines Gurdjieff reichlich menschenkäsig wirkt, war bei unserer Madame Pompadour von gay.de auch nicht alles Sèvres sondern viel Pforzheim. Ich habe einige Mal mit ihm telefoniert, stellte aber schnell fest, dass diese Telefonte auf das hinausliefen, was Castaneda irgendwo als Abgleichen von Registern bezeichnet ("Was, mein Lieber, du kennst die köstliche Hermann Löns Geschichte über die Eilenriede nicht?"). Bei meinen eigenen Sachen erhielt ich in einigen Fällen von ihm Zuspruch, in Fällen krasser Schilderung von Sexualität winkte er aber nicht nur bei mir sondern auch bei ganz anderen Kalibern wie einem Houellebecq ab. Zuletzt hatten wir uns gemeinsam auf Kritiken der unsäglichen, neu-bundesrepublikanischen Großschriftstellerin Lewitscharoff eingeschossen. Ich hatte ihm in einem unserer letzten Gespräche vorgeworfen, mit seiner letztlich nur wenig transgressiven Haltung in Sachen Sexualität in einem Lager mit Schriftstellern des neuen Biedermeier wie Lewitscharoff und Mosebach zu stehen. Das hatte ihn anscheinend gewurmt. Gestern las ich noch einmal auf seinem Blog morgenblatt.de eine seiner letzten großen Kritiken, die sich rund um das Phänomen Lewitscharoff dreht, und war den Tränen nahe. Im Kampf nicht nur gegen das, was er die schwäbische "Pietcong" nennt, sehe ich mich über seinen Tod hinaus nun weiter mit vereint. In Anbetracht von Leuten wie Lewitscharoff und Mosebach bin ich auch bereit, sein Eintreten für die heteronormativ-schwule Lebenspartnerschaft im Forum von gay.de, das ich immer für läppisch erachtete, in einem anderen Licht zu sehen. Was Schwaben aufbringt, kann per se schon einmal nicht schlecht sein. 

Ich hätte wahrscheinlich auch ohne Sebastian irgendwann zu bloggen angefangen. Aber es was sein Mut, in der hintersten Ecke des Internets in einem ziemlich schäbigen Forum druckreif über alle möglichen schwulen Themen von Belang zu schreiben, der mich nicht länger auf das Ausrollen eines roten Teppichs eines virtuellen Faubourg St. Germains warten ließ. Sieh an, sagte ich mir, da ist einer trotz seiner manchmal etwas verstaubten Befreiungsrhetorik eher als du bereits im 21. Jahrhundert angelangt. Sebastian hatte offenbar begriffen, was mir noch zu schaffen machte, nämlich dass das Internet nicht wie das 18. Jahrhundert hierarchisch strukturiert ist, sondern in ihm alle Orte letztlich gleich sind und es einen Salon à la Madame de Stael in ihm daher nicht mehr geben wird. Man ist ganz grundsätzlich und in einem für Menschen vorheriger Gesellschaftsformationen unfassbaren Ausmaß allein. Der Hartz4-Empfänger steht nicht besser da als der verdiente ehemalige Feuilletonist einer überregionalen Zeitung. Sie stehen aber beide besser da als die Insassen sozialer Systeme, gleich ob sie nun das Hamsterrad Wirtschaft oder das Hamsterrad Geisteswissenschaften bedienen. Nichts hindert die Randständigen einfach jetzt und zwar irgendwo im Internet loszulegen. Die kommende Gesellschaft schöngeistiger Dilettanti als Gegenwelt wird anders aussehen, als wir uns das vorstellen können, wenn wir es denn wagen, sie uns vorzustellen. Sie ist keine Utopie, sie ist eine Dystopie.


Anmerkung von toltec-head:

Sebastian über Lewitscharoff: Die fromme Erektion auf  morgenblatt.de.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (18.09.14)
Ich kannte Sebastian Giebenrath nicht. Dein Nachruf hat mich neugierig gemacht. Ich habe heute seine Rezenion von Bryant "Himmlers Kinder" mit Gewinn gelesen.

 toltec-head meinte dazu am 18.09.14:
Das hätte ihn sicherlich gefreut, Ekki.

 Regina (18.09.14)
Deinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen kann man sich nicht entziehen.

 toltec-head antwortete darauf am 18.09.14:
Dank dir, Regina.
Graeculus (69)
(18.09.14)
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 toltec-head schrieb daraufhin am 18.09.14:
Dass die Pforzheimer Schwaben seien, hab ich auch nicht behauptet. Könnte man höchstens so zwischen die Zeilen hineininterpretieren von wegen Pietcong. So genau kenne ich mich da sicherlich auch nicht aus. Aber so wie´s da steht stimmt´s schon.
Graeculus (69) äußerte darauf am 18.09.14:
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 toltec-head ergänzte dazu am 20.09.14:
Der Baron d'Hancarville schreibt mir in einem Brief zum Thema:


"Pforzheimer sind natürlich waschechte Schwaben. Du hast es wohl gehört am Telefon und schreibst es also.
Ich muss sehen, dass ich das kompakt bekomme, obwohl es eines meiner liebsten Themen ist.
Dieser Unterschied zwischen "Volk" und "Politischer Korpoation". Das Volk der Schwaben geht bis Augsburg und Füssen, obwohl das zum Staat Bayern gehört. Mannheimer sind Pfälzer, auch wenn sie seit 200 Jahren Badner sind. Bad Mergentheimer sind Franken, auch wenn sie Teil Württembergs sind/ waren. Schweizer sind bekanntlich Alemannen, aber auch die Friedrichshafener (Württenberg) und sogar die Wasserburger (Walser, Sohn der Bahnhofwirtschaft) sind Alemannen, obwohl das in, nein, nicht BaWü, sondern Bayern! ist. Walser als Bayer, denkt man auch nicht. (Allerdings muss ich sagen, dass in diesem Raum nördlich vom Bodensee schon schwer zu sagen ist, ob es noch Alemannisch oder schon Schwäbisch ist, Kostanz ist noch einwandfrei KEIN Schwäbisch, aber stimmt es denn, dass auch Ravensburg keines ist? Ja, es stimmt, jedenfalls offiziell, da ist es Alemannisch, Biberach aber schwäbisch.)
Auf diese Weise ist PF schwäbisch. Zugleich, Lehrer wissen ja alles, ist PF was vom Badischten, was überhaupt existiert, nämlich die Grablege des einen Zweigs der Familie und x Jahrhunderte in ununterbrochen Besitz der Badener, heute noch Regbez. Kallsruh und nicht Stuttgart. Pforzheimer sind eben die "badischen Schwaben". Und im Grund ja genau dasselbe wie das umliegende Hesse-Country, Calw und Maulbronn, obwohl beide politisch eben immer württembg., PF immer badisch waren. Evang. sind sie alle drei."
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