Wo einst die Pferde tranken

Kurzprosa zum Thema Stadt

von  Regina

Dämmerszenen längst vergangener Bilder scheinen sich im träge dahintreibenden Wasser zu spiegeln. Herbstlicht zaubert Weinrot und Grüngelb in einen zitternden Spiegel. Die Straßenschilder rufen die Namen kaiserlicher Söhne und Töchter. Victoria auf dem Dach des hundertjährigen Theaters triumphiert als einzige Überlebende des Klassizismus, dessen Ornamente und Figuren dem Sandstein Leben abtrutzen, obwohl die feuchtkalten Backsteinhinterhöfe niemals halten, was die Fassade verspricht. Wilhelminischer Gründerzeitstil, der am Ende das Leben millionenfach verlor, riecht in seiner bröckelnden Vergänglichkeit anheimelnd romantisch, als erzähle er von bürgerlichem Wohlstand und Pferdebahn. Ende 1918.
Zyklopische Betonburgen entstehen heute, wo die Abrissbirne gegen Konsolen und Karyatiden wütet, während Mehlbeeren überreif an dornigen Büschen hängen, die Überlebensstrategien bäuerlich anmutender Stadtbewohnerinnen durch zwei Kriege schildernd. In den Straßen spiegelt sich das langsame Tempo des Flusses in der Apathie der Blicke, die sagen: Man kann nichts tun als versuchen, durchzuhalten. Es ist wieder Krieg, ohne Erklärung an einen äußeren Feind. Krieg war immer der Feind des Lebens und der Wohngebäude. Die Blätter der Hainbuchenhecke sind bereits vertrocknet und geben den Blick auf uralte Fachwerkhäuser frei, zu deren Füßen mineralstoffreiche  Nesseln wachsen, Retter in der Not, wo Menschen bedrängt sind. Eine Planierraupe kommt der Mädesüßwiese am Zusammenfluss der zwei Flüsschen gefährlich nahe, als spräche sie: Nicht mehr lange wirst du blühen, dann sprechen wir dir deine Seinsberechtigung ab. Hoch ragt die sterbende Angelika mit ihren vertrockneten Dolden auf. Diesen Sommer hatte sie noch.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(04.10.14)
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