Todesnähe

Kurzprosa zum Thema Tod

von  Regina

Dieser Text gehört zum Projekt    Texte vom Tod.
Anders als erwartet fühlte ich mich freier, je mehr die äußere Bedrängnis sich zuspitzte und legte jene süßliche Dämmerstundenmelancholie ab, der ich mich in beschaulicheren Lebenszeiten oft hingegeben hatte. Angst, so stellte ich fest, hatte ich vor, aber nicht in der Gefahr empfunden. Die nächtlichen Traumfilme rasten an meinem inneren Auge vorüber, angespannteste Aufmerksamkeit fordernd. Von den Ereignissen in der Außenwelt gäbe es zwar das eine oder andere zu berichten, aber der Fokus der Konzentration verlegte sich mehr und mehr nach innen. Nur eine begrenzte Weile hielt sich das Bewusstsein bei  persönlichen Schwächen und Verletzungen auf. Dann ließ es die physische Person los und lenkte die Wahrnehmung tiefer und tiefer in diejenige Sphäre, die auch das kollektive Unterbewusste genannt wird und begegnete den Motiven und Gestalten, die man Archetypen nennt.
Zunächst fühlte ich mich geneigt, alle Menschen an der Kehrtwende meiner Psyche teilhaben zu lassen. Aber ich stieß überall auf dem Alltag zugewandtes Halbinteresse. So begriff ich nach und nach, dass ich zwar in der physischen Welt anwesend, aber mit dem größeren Anteil meines Seins allein in einer jenseitigen Sphäre wandelte, was manchmal sogar schroffe Zurückweisung verursachte. Doch es gab kein Zurück in den Kerker des aufgebrochenen Individuums, das sich nicht mehr als Ego wahrnahm, sondern als Teil einer transzendenten Weltverbundenheit, die die Stoffwelt zu einer flüchtigen Nebenerscheinung herabstufte. Die Kontrolle über mein Leben hatte ich sowohl seelisch als auch existentiell verloren, so dass ich mich tagtäglich darüber wunderte, dass ich noch in der Stoffwelt verweilte. Das Leben schien mit mir abgeschlossen zu haben, obwohl ich dem letzten Akt noch immer kämpferisch die Stirn zu bieten versuchte.
Wie ein aus heißem, flüssigen Gold bestehender Lavastrom ergoss sich schließlich in einer einzigen Sekunde unvorstellbare Hitzeglut über meine Haut vom Kopf bis zu den Füßen und ließ das elektromagnetische System meines Körpers völlig zusammenbrechen, warf mich für zehn Wochen mit unklarer Diagnose aufs Bett, ohne die Möglichkeit, einen Löffel halten oder einen Fuß auf feste Erde setzen zu können, so dass ich glaubte, dass dies nun der endgültige Abschied sein musste. Doch schließlich stand ich fahl und geschwächt auf, um torkelnd und zögerlich aus dem Reich der Toten ins Leben zurückzukehren.

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