Verletzungen und Scham

Text zum Thema Gewalt

von  IngeWrobel

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Das Kind hatte sich verletzt. Es war an einem Baugerüst herumgeklettert und abgerutscht. Ein Nagel hatte sich in die Innenseite des Oberschenkels gebohrt und eine tiefe klaffende und stark blutende Wunde gerissen.

Weinend lief das Kind über die Straße in die elterliche Wohnung. Die Mutter rief einen Arzt an, der auch kam, um die Wunde zu versorgen. Der Doktor wollte dem Kind eine Spritze geben. Heute weiß ich, dass es wohl eine Tetanusspritze war.

Das Kind weigerte sich standhaft, den Rücken und Po für die Spritze zu entblößen – es schrie wie am Spieß und wehrte sich, ließ sich weder beruhigen, noch festhalten. Schließlich wurde auf die Spritze verzichtet. Wie das Problem der Wundbehandlung gelöst wurde, weiß ich nicht mehr. Die Narbe gibt es immer noch.

Ich hatte keine Angst vor der Spritze oder dem Doktor. Es war die Scham, die mich schreien ließ. Hätte der Arzt meinen Rücken und Po gesehen, wären ihm die blutigen Striemen aufgefallen, die meinen Rücken und Po bedeckten. Hätte er meine Mutter auf die Spuren der Misshandlungen angesprochen? Wie hätte sie reagiert?

Warum, frage ich mich bis heute, schämen sich Kinder dafür, dass sie von ihren Eltern misshandelt werden? 

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Kommentare zu diesem Text

Silvi_B (48)
(28.11.14)
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 IngeWrobel meinte dazu am 28.11.14:
Hallo Silvi_B!
Danke für Deine Auseinandersetzung mit meinem Text. Viel kann ich zu Deinem Eindruck und den kritischen Anmerkungen nicht sagen - es ist schließlich Dein persönlicher Eindruck.
Zur Authentizität sei gesagt, dass ich hier eine Begebenheit aus meinem Leben berichte und sie so beschreibe, wie sie sich mir eingeprägt hat. Die zu Beginn distanzierte Erzählweise ist mein literarisches Herangehen an Erzählungen, die mich selbst betreffen. Ich möchte nicht in Selbstmitleid verfallen oder Mitleid beim Leser provozieren, sondern ich erzähle eine Geschichte, die so oder ähnlich sicher von vielen Menschen erlebt wurde. Schwerpunkt ist die Frage, warum Kinder ihre Peiniger schützen. Die Antwort gibst Du in Deinem Kommentar. So gesehen wäre mein Text überflüssig, denn natürlich weiß ich auch, dass selbst sehr kleine Kinder ahnen, dass eine Klage über das, was ihnen geschieht, nur härtere Repressalien nach sich zöge. Und Kinder sind nun mal symbiotisch an ihre Eltern / Betreuer gebunden, so lange sie nicht autark existieren können.
Man könnte und kann nun also so gesehen meinen Text in die Kategorie "Texte, die die Welt nicht braucht" schieben. Ich bin jedoch der Meinung, dass die Welt solche Texte immer mal wieder braucht. Manchmal ist es gut, den Finger in alte Wunden zu legen und darauf hinzuweisen, wie sich Gewalt in der Familie anfühlt ... und was Ohnmacht im Umgang damit bedeutet.
Zu Deinem letzten Satz: Der Text ist autobiographisch - aber so geschrieben, dass er nicht sofort beiseite gelegt werden soll, sondern zum Nachdenken anregen und vielleicht betroffen machen soll.
Das ist mir bei Dir gelungen, denn Du hast Dich mit dem Text auseinandergesetzt ... und dafür danke ich Dir!
Alles Liebe, Inge
Silvi_B (48) antwortete darauf am 28.11.14:
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holzköpfchen (31)
(28.11.14)
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 IngeWrobel schrieb daraufhin am 28.11.14:
Hallo h.,
Du weißt, dass mir Deine Meinung zu meinen Texten wichtig ist. Deswegen meine Frage an Dich: Wie mache ich aus diesem Bericht "Literatur"?
Meine Hoffnung war, das mir das schon gelungen sei durch den Wechsel der Erzählperspektive vom neutralen Beobachter zum Betroffenen. Anscheinend nicht. Was ich auf keinen Fall möchte, sind Mitleidbezeigungen seitens der Leser. Deswegen gehe ich auf die körperlichen Schmerzen nicht näher ein. Bedeutung hat für mich nur noch - selbst nach so langer Zeit - das psychische Trauma durch die ständigen Misshandlungen meiner Mutter. Und die bittere Erkenntnis, dass man ein Lebenlang der Mutterliebe "hinterherrennt", die man nie erfahren hat. Das muss wohl nicht so sein ... bei mir aber war es so.
Vielleicht aber kommt das beim Lesen nicht rüber - da magst Du Recht haben.
Vielen Dank für Deine Worte!
Gruß, Inge

 IngeWrobel äußerte darauf am 14.12.14:
... gerade erst bemerkt: dem "dass" nach "...war, ..." fehlt ein s - hiermit nachgeschickt. ,-)
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