Weidenkätzchen statt Elektroschock: Kräuterhexe Jan Wagner gewinnt für Variationen über Regentonnen den Leipziger Buchpreis

Glosse zum Thema Literatur

von  toltec-head

es gibt die Konstellationen
des südlichen und des nördlichen himmels,
und es gibt sie: die silberdisteln.


Bestimmte Sorten von Dates, nämlich solche bei denen die Klientel die härtere Gangart bevorzugt, finden bei mir seit geraumer Zeit bereits nur noch im Keller statt. "Kommst runter, Turnschuh zwischen Tür, wartest nackt doggy-style, legen dann gleich los."  An sich ist mir das alles zu umständlich und unbequem, ich werde halt auch alt. Früher hab ich das Klientel auch in meine Wohnräume geführt. Aber dann wurde mir dank Jan klar, dass dies Zweites-Date-technisch, und es gibt immer Fälle, in denen man auf ein zweites Date hofft, eher schlecht ist.

Mit Jan hatte ich mich öfters getroffen, er ist einer der seltenen, glücklichen Fälle, in denen sehr intensiver Sex irgendwann in eine lockere Freundschaft überging. Als wir noch Sex hatten, brachte er immer ein Reizstromgerät mit, was ich zunächst extremst nervig fand, aber dann eigentlich schon beim zweiten Mal als gelungene Abwechselung. Ab einem bestimmten Moment unserer Sessions war es meine Aufgabe synaptische Schlingen über seinen erigierten Schwanz zu legen und, während er auf mir ritt, die Stromzufuhr kontinuierlich zu steigern, bis er auf meiner Brust - es war immer unnatürlich viel - abspritzte.

Bei dem letzten Date, wo wir noch miteinander Sex hatten, gestand er mir, eigentlich schon nach dem ersten Treffen vorgehabt zu haben, nicht mehr zu kommen.
- Warum?
- Wegen der Zahnpasta, die ich in deinem Bad gefunden hatte. Der Sex war von Anfang an gut, aber ich schätzte dich als verbeamtete Kräuterhexe ein.
- Ach so und ich dachte schon, ich sei dir zu alt.
- Quatsch, du bist doch eher noch zu jung.
Ohne Jan hätte ich wohl noch einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass für manche Männer meine Weleda-Zahnpasta abtörnender als meine Jahre und Falten sein könnte.
Er lachte.
- Na, um ehrlich zu sein, es war nicht nur deine Zahnpasta.
Mulmig wurde mir allmählich das gesamte Ausmaß der Katastrophe meines Badezimmers bewusst. Nein, als Kräuterhexe war natürlich nicht nur meine Zahnpasta von Weleda, sondern meine Seife von Speick, mein Shampoo von Logona und selbst mein WC-Reiniger von Sonett; alles gekauft bei: Denns, Bio-Markt. Mit anderen Worten, wer von den härteren Kerls jemals mein Bad betreten hatte, hätte am liebsten sofort die Flucht ergriffen, und wer weiß, welche schönen zweiten Dates ich mir so mit meinem Bio-Tick verbaut hatte.
- Und außerdem dann noch, Jan gähnte und strich über mein Brusthaar, die viiiiiiiiiiielen Bücher!
Es war natürlich völlig nutzlos, ihm zu erklären, dass in meinem Bücherschrank nur Hard-Core Literatur von Camões bis Burroughs stand und ich die ganze Schlappschwanz-Literatur von Natur-Lyrikern oder Familiengeschichten-Erzähler zutiefst verabscheute. Er winkte ab und packte seine Poppers-Fläschchen zusammen. Gut, zukünftige Dates, wo Kuscheln nicht gefragt war, würden also von nun ab nur noch im Keller stattfinden. Die Literatur hatte wie meine Bio-Kosmetika bei richtigen Männern insgesamt verkackt. Mag ja so in der Zeitspanne von Homer bis Camões mal anders gewesen sein, aber heute, das musste ich einsehen und sah es auch ein, war das eben so. Denn es stimmt ja: Spätestens seit der Romantik hatte sich ein tantig bis fräuleinhafter Ton, so ein Weidenkätzchen-Ton, in der Literatur breit gemacht, der bei Patroklos-Naturen natürliche Fluchtreflexe auslöst. Homer und Camões mögen tatsächlich noch näher an Elektroschocks gewesen sein, jetzt war dank der Kräuterhexen alles nur noch Sonett WC-Reiniger.

warum sich tante mia wann genau
ein weidekätzchen in die nase steckte,
verschweigt die geschichte. sicher ist: es wich,
je mehr sie es zu fassen suchte, stetig
zurück in seine dunkelheiten, weich
und weiß, ein hermelin in seinem bau.


 Tagesschau von vor zwei Tagen. Kulturpudel Hubert Winkels, der sich anders als Frau Obama seine Locken bestimmt mit einem Natur-Mittel von Spinnrad glättet, begründet die Entscheidung der Jury: sie sei allein durch die Freude am gemeinsamen Rezitieren entstanden. Einmal, aber es würde mir nicht gelingen, Jan jemals davon zu überzeugen, war die Literatur wie das Pferd schönstes Spielzeug edler Männerherzen gewesen. Zu lang her. Die klea andron spielten sich alle längst nur noch im Keller ab, oben herrschen Fräuleins und Kräuterhexen und brauen Weleda.

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Kommentare zu diesem Text

oK0 (37)
(14.03.15)
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 toltec-head meinte dazu am 14.03.15:
Für Kellerhaltung als grumpy cat reicht´s.
oK0 (37) antwortete darauf am 14.03.15:
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 EkkehartMittelberg (14.03.15)
Man muss nicht unbedingt Elektroschocks gegen Weidenkätzchen ausspielen, aber Tatsache ist, dass sich seit der dominanten Naturyrik der 50er Jahre, als Lehmann den Löwenzahn hochlobte, bis zu Wagners Silberdistel nichts geändert hat. Man fragt weiter das Blumenorakel ab und politische Lyrik kümmert vor sich hin.
Ich habe nur ein paar Gedichte von Wagner gelesen. Deine Charakterisierung als humorlose Kräuterhexe stimmt.

 toltec-head schrieb daraufhin am 14.03.15:
Du bist auf deine alten Tage so sehr viel sexyer als der Wagner, wenn ich das mal so sagen darf, Ekki.
parkfüralteprofs (57)
(14.03.15)
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 toltec-head äußerte darauf am 21.03.15:
1999: Förderpreis für literarische Übersetzungen der Stadt Hamburg
2000: Arbeitsstipendium des Berliner Senats
2001: Hamburger Förderpreis für Literatur
2001: Förderpreis zum Hermann-Hesse-Preis
2001: Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds
2002: Stipendiat im Künstlerhaus Edenkoben
2003: Amsterdam-Stipendium der Stichting Culturele Uitwisseling Nederland Duitsland und des Berliner Senats
2003: Christine-Lavant-Publikumspreis
2004: Stipendium des Heinrich-Heine-Hauses Lüneburg
2004: Alfred-Gruber-Preis
2004: Anna-Seghers-Preis
2004: Mondseer Lyrikpreis
2005: Ernst-Meister-Preis für Lyrik
2006: Arno-Reinfrank-Literaturpreis
2006: Arbeitsstipendium der Stiftung Preußische Seehandlung
2007: Casa Baldi-Stipendium der Deutschen Akademie Rom
2008: Max Kade Writer-in-Residence am Department of German Language and Literatures in Oberlin, Ohio (USA)
2008: Schriftstellerstipendium aus dem Else-Heiliger-Fonds der Konrad-Adenauer-Stiftung
2009: Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds
2009: Arbeitsstipendium des Berliner Senats
2009: Wilhelm-Lehmann-Preis
2009: Stipendium des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg
2011: Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität und der Universitätsstadt Tübingen
2011: Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo Rom
2011: Kranichsteiner Literaturpreis
2013: Paul Scheerbart-Preis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung
2014: Jahresstipendium der Carl Friedrich von Siemens Stiftung mit Aufenthalt in München
2015: Aufenthaltsstipendium der Villa Aurora
2015: Mörike-Preis der Stadt Fellbach
2015: Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Belletristik“ (für den Gedichtband Regentonnenvariationen)

Und stell dir vor, für jeden einzelnen musst du Bewerbungsunterlagen einsenden. Und die Bearbeiter sind wie in in der ARGEN meist Frauen. Gruselig oder?
parkfüralteprofs (57) ergänzte dazu am 21.03.15:
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AbrakadabrA (45)
(15.03.15)
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 toltec-head meinte dazu am 21.03.15:
Und der Christine-Lavant-Publikumspreis 2017 for the most underfucked poet of the year geht an (tätaratä) Aron Mansfeld.
(Antwort korrigiert am 21.03.2015)
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