Der Clown

Erzählung zum Thema Alleinsein

von  Sekundärstille

Der Clown saß in der Bank gegenüber. Während die U-Bahn Richtung Rathaus Neukölln ratterte, schaffte ich es nicht, meinen Blick von ihm abzuwenden.
Tief in mir weckte er Kindheitserinnerungen an Popcorn, den Geruch von Sägespänen und das Brüllen wilder Tiger.
Er merkte nicht, dass ich ihn anstarrte, weil er sein Gesicht dem Fenster zugewandt hatte.
Dort draußen gab es nichts zu sehen, außer der Schwärze berliner U-Bahn-Tunnels.

Sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe und ich konnte deutlich erkennen, wie die dicken Schichten Schminke verlaufen waren. Vom Regen? Oder hatte er geweint?

Der Clown trug einen großen, schwarzen Zylinder. Darunter quoll lockiges, gelbes Haar heraus, das ihm, ungekämmt und wirr, bis auf die Schultern fiel. Obwohl es in der Bahn warm war, hatte er den dunkelroten Mantel nicht ausgezogen. Bis auf seine Schuhe, die, typisch für einen Clown, viel zu lang waren, wirkte seine Kleidung alt und staubig. Die Schuhe aber hatte er geputzt, denn das Leder glänzte so stark, dass sich die Neonröhre über unseren Köpfen darin spiegelte.

Das Ungewöhnliche aber war der Luftballon. Der Clown hielt ihn in seiner rechten Hand. Es war das einzige, was er mit sich führte. Weil der Ballon mit Helium gefüllt war, stand er an seiner Schnur senkrecht in der Luft. Nur wenn die Bahn beschleunigte, neigte er sich nach hinten, um gleich darauf wieder an seine ursprüngliche Position zurück zu schweben.

Gedankenverloren blickte ich den gelben Ballon an und wunderte mich, dass nicht die Kinder, die ebenfalls im Waggon saßen, darauf aufmerksam wurden, dass sich eigentlich niemand an diesem Clown wunderte.

Inzwischen hielt die Bahn. Der Clown stand auf, zog den Ballon näher an sich heran und wankte dann in den zu großen Schuhen nach draußen. Ich folgte ihm.

Er setzte sich auf eine der Metallbänke am Bahnsteig und blickte den Menschen nach, die rastlos an ihm vorbeieilten.
Dann öffnete er vorsichtig die Hand. Der Luftballon schwebte langsam, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, nach oben und blieb nach seiner kurzen Reise an der Decke des U-Bahnhofes hängen.
Der Clown und ich blickten hinauf. Der gelbe Ballon baumelte da, wie eine künstliche Sonne.

Eine Sonne.

Ich ging zur Rolltreppe und während ich nach oben fuhr, verschwand der Clown langsam aus meinem Blickfeld. Über mir tat sich der Himmel auf, und da war sie wirklich, die Sonne.

Der Clown aber saß unten und konnte sie nicht sehen.

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