Epochentypische Gedichte:

Interpretation zum Thema Zeit

von  EkkehartMittelberg

Einige markante Daten zu der Epoche des deutschsprachigen bürgerlichen Realismus sollen den Hintergrund für die anschließende Interpretation des Gedichts von Keller bilden.
1. Der Begriff „Realismus“: Die mit Realismus bezeichnete Epoche dauerte von 1848, dem Jahr der gescheiterten Märzrevolution, bis 1890 und wurde vom „Naturalismus“ abgelöst, der jedoch schon 1880 begann.
Unter Realismus versteht man die genaue, möglichst objektive Beobachtung der Wirklichkeit, jedoch nicht deren exakte Abbildung. Weil die Dichter des Realismus mehr wollen als eine bloße Beschreibung der Wirklichkeit, wird diese ästhetisiert. Das Hässliche und Unpoetische bleiben außen vor. Hauptgegenstand der literarischen Schilderungen ist die bürgerliche Gesellschaft. Der Programmatiker des deutschen Realismus Julian Schmidt forderte, metaphysische Spekulationen zu vermeiden, die Schönheit der Welt und die Poesie der Wirklichkeit zu entdecken.
2. Poetischer oder bürgerlicher Realismus
Der Realismus in Deutschland beschreibt sowohl großbürgerliche als auch kleinbürgerliche Verhältnisse in größeren Städten und in Dörfern. Die Helden verkörpern in der Regel bürgerliche Werte und Ideen. Weil dieser deutsche bürgerliche Realismus die Wirklichkeit nicht verändern will, sondern sie ästhetisiert und verklärt, wird er auch, zuerst 1871 von Otto Ludwig, poetischer Realismus genannt.
3. Der kritische Realismus
entstand Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich mit Romanen und Erzählungen von Gustave Flaubert, Stendhal, Guy de Maupassant und Honoré de Balzac. Anders als in Deutschland werden soziales Elend und damit auch das Hässliche nicht ausgespart, weil der um Objektivität bemühte Erzähler nicht verschweigen mag, was er sieht. Gerade durch das vorherrschende teilnahmslos wirkende neutrale Erzählverhalten wird dem Leser die gesellschaftskritische Sicht der Autoren vermittelt.
4. Entwicklung des Realismus
In seinen Anfängen war der bürgerliche Realismus trotz oder gerade wegen der Religionskritik Ludwig Feuerbachs (1804-1872), der das Göttliche im Menschen betonte und eine altruistische Lebensweise verlangte, optimistisch. Zu dieser Einstellung trug auch der Fortschrittsglaube der industriellen Revolution bei. Infolge der mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Probleme wurde das Menschenbild des Realismus jedoch pessimistischer. Diese Weltsicht wurde durch eine deterministische Naturwissenschaft (Vererbungslehre, Milieutheorie) und Philosophie verstärkt, die ein Weiterleben im Jenseits leugnete. Der einflussreiche Philosoph Schopenhauer sprach vom Leiden in einer Welt, die „Äußerung einer unvernünftigen und blinden Kraft“ sei.
5. Historischer Hintergrund: Die deutsche Märzrevolution von 1848 war eine Folge revolutionärer Gedanken, die wieder einmal ihren Ursprung in Frankreich hatten. Die gegen die absolutistischen Herrscher gerichtete Revolution war mit weit reichenden sozialen Forderungen verknüpft. Zunächst hatte die Märzrevolution in Wien mit dem Sturz Metternichs Erfolg. Sie scheiterte aber am Großbürgertum, das eine rote Republik und soziale Anarchie fürchtete und die konservativen Regierungen in Europa stützte. Preußische Truppen lösten 1849 die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt auf. Mit diesem Hintergrund erklärt sich die resignative Bescheidung des Bürgerlichen Realismus
Zur Abkehr von der idealisierenden Sicht der Klassik und der Wirklichkeitsflucht der Romantik trugen während der Epoche der Realismus sozialpolitische Entwicklungen entscheidend bei: die mit der Industrialisierung einhergehenden Fortschritte der Technik und die Verarmung der Arbeiterklasse (14 Arbeitsstunden, ohne Sicherheit bei Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit), der Aufstieg des Bürgertums, die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882), die Schriften von Taine (1828-1893), der das Leben von Vererbung, Milieu und historischer Situation gesetzmäßig bestimmt sah, und nicht zuletzt das Werk von Karl Marx (1818-1883), der die Produktionsverhältnisse für die entscheidende Triebkraft geschichtlicher Abläufe hielt
6. Literarische Gattungen
Die vorherrschenden Gattungen der Epoche sind die Novelle und der Roman als Bildungsroman, historischer Roman, Gesellschaftsroman und Familienroman. Das Drama spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das kann man von der Lyrik zwar nicht sagen, aber es ist schwieriger als bei den Erzählformen, epochentypische Merkmale an Gedichten des Realismus aufzuzeigen, weil stilistische Merkmale der Klassik und Romantik bei ihnen stärker nachwirken.


Gottfried Keller
Die Zeit geht nicht

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karavanserai,
Wir sind die Pilger drin.

Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.

Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.

Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.

An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End’,
Auch ich schreib meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.

Froh bin ich, dass ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb’ ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.

Es ist erstaunlich, dass Kellers (1819-1890) 1851 verfasstes Gedicht über die Zeit, die nicht geht, 158 Jahre später 2009 von der modernen Physik durch Untersuchung von Lichtteilchen bestätigt wird:
„Robert Seiringer, Juniorprofessor der Physik in Princeton: ‚Für Lichtteilchen vergeht die Zeit nicht, in dem Sinne, dass eine hypothetische, sich mit einem Lichtteilchen mitbewegende Uhr stehen würde.’
Denn Lichtteilchen breiten sich im Vakuum - wie der Name schon sagt -mit Lichtgeschwindigkeit aus. Daher steht nach Meinung der Physiker für sie als ganzes die Zeit im Vergleich zum ruhenden Beobachter auch still.“ http://science.orf.at/science/ays/121657
Damit stimmt folgende Aussage überein: „Das scheinbare Fließen der Zeit wird daher von vielen Physikern und Philosophen als ein subjektives Phänomen oder gar als Illusion angesehen. Man nimmt an, dass es sehr eng mit dem Phänomen des Bewusstseins verknüpft ist, das ebenso wie dieses sich einer physikalischen Beschreibung oder gar Erklärung entzieht und zu den großen Rätseln der Naturwissenschaft und Philosophie zählt. Damit wäre unsere Erfahrung von Zeit vergleichbar mit den Qualia in der Philosophie des Bewusstseins und hätte folglich mit der Realität primär ebenso wenig zu tun wie der phänomenale Bewusstseinsinhalt bei der Wahrnehmung der Farbe Blau mit der zugehörigen Wellenlänge des Lichts.
Hinfällig wäre damit unsere intuitive Vorstellung, es gäbe eine von der eigenen Person unabhängige Instanz nach Art einer kosmischen Uhr, die bestimmt, welchen Zeitpunkt wir alle im Moment gemeinsam erleben, und die damit die Gegenwart zu einem objektiven uns alle verbindenden Jetzt macht.“ (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Zeit)

Die obigen  Feststellungen geben uns eine wichtige Begründung dafür, dass Kellers Gedicht typisch für die Epoche des Realismus ist. Der Dichter bezieht sich auf genaue Beobachtung der Wirklichkeit, nach der Zeit an und für sich nicht ein vergänglicher linearer Ablauf ist, von dem er aber mit Blick auf das menschliche Leben a u c h spricht:

„Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.“

Dieser vergänglichen Zeit, die aus der vorherrschenden nicht der Naturwissenschaft verpflichteten Perspektive dadurch Gestalt gewinnt, dass Menschen sich bewegen („Wo ihr drin auf und nieder taucht, Bis wieder ihr zerrinnt“) stellt er die nicht gehende, still stehende Zeit gegenüber. Diese beschreibt er als „Ein Etwas, form- und farbenlos“ (II,1), als ein noch unbeschriebenes Pergament, auf dem Menschen ihre Spuren hinterlassen, bis sie der Strom der vergänglichen Zeit, in den sie in ihrer Lebenspraxis eintauchen (müssen) , vertreibt:

„Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.“

Noch ein Weiteres ist epochentypisch für den Bürgerlichen Realismus. Andere Epochen, wie zum Beispiel das hier von mir schon interpretierte Barock (Gryphius: Es ist alles eitel) oder die Klassik (Schiller: Nänie) beklagen die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und richten den Blick auf das Jenseits bzw. die Unterwelt. Nicht so Keller, der wohl in der Nachfolge Feuerbachs ohne den Trost irgendeiner Religion oder Metaphysik die Schönheit der diesseitigen Welt fast überschwänglich lobt (Vgl. III, 1,2 und die Strophen V und VI). Damit entspricht er der Forderung Julian Schmidts, die Schönheit der Welt und die Poesie der Wirklichkeit zu entdecken.

Konstitutiv für dieses rundum schöne Gedicht sind die gelungenen Metaphern und Bilder, die sowohl der still stehenden als auch der zerrinnenden Zeit gelten, zum Beispiel die Zeit als Karavanserai und die Menschen als Pilger (I, 3,4), das Bild von der form- und farblosen Zeit, das nur dadurch Gestalt gewinnen kann, dass die Menschen in ihr auf und nieder tauchen (Strophe II), die Bilder von dem aufblitzenden Tropfen Morgentau und dem Tag als Perle (Strophe III), die Metaphern von der Zeit als Pergament, auf dem jeder mit seinem roten Blut (dem Lebensblut) schreibt, bis ihn der Strom der vergänglichen Zeit vertreibt (Strophe IV) und schließlich die Metaphern von der Zeit als rundem Kranz und der Quelle, deren Glanz das lyrische Ich nicht trübt.

Keller hätte für seine Gedankenlyrik statt des einfachen volkstümlichen Kreuzreims auch Strophenformen wie das Sonett oder die Stanze wählen können, die den reflektierenden Charakter des Gedichts mehr betont hätten. Aber gerade die schlichte Form unterstreicht zwanglos die Aussage von dem „runden Kranz“ des Lebens, die symbolisch für die diesseitsfrohe Botschaft des Gedichts ist.

Die regelmäßig alternierenden vierfüßigen und dreifüßigen Jamben und die männlichen Versausgänge formen einen ruhig dahin fließenden, unaufgeregten Rhythmus. Dieser akzentuiert die Schlüsselwörter, welche die für die Zeit des frühen Poetischen Realismus typische wirklichkeitsorientierte, aber zugleich optimistisch ästhetisierende Weltsicht unterstreichen

© Ekkehart Mittelberg, Mai 2015

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Kommentare zu diesem Text

Patrix (65)
(24.05.15)
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 AZU20 meinte dazu am 24.05.15:
Ich auch. L Pfingstgrüße

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.05.15:
Merci, Patrix, Beschreibungen von Epochen generalisieren selbstverständlich, aber sie sind doch hilfreich für eine literaturgeschichtliche Orientierung.

Liebe Grüße
Ekki

 loslosch (24.05.15)
ein weites feld, luise ...

den schöpfer der floskel vermisse ich.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.05.15:
Danke, wenn es sich hier um einen Auszug aus einem Roman gehandelt hätte, wäre er erwähnt worden, Lothar. Freilich hat er auch ein paar gute Balladen geschrieben. Als Romancier ist er jedoch der bedeutendste unter den deutschen Autoren des Realismus.
flirtmaschine (50)
(24.05.15)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.05.15:
Gracie für deine interessante Einlassung, Flirty (als Anrede etwas hübscher)
Ich finde es einfach bemerkenswert, dass das Konstrukt eines Poeten von der stehenden Zeit von Naturwissenschaftlern geteilt wird. Es war mir klar, dass auch unter ihnen die Meinungen darüber divergieren.
flirtmaschine (50) ergänzte dazu am 24.05.15:
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chichi† (80)
(24.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.05.15:
Liebe Gerda, es freut mich, dass meine Interpretation etwas zur Erhellung beiträgt. Merci.

Auch dir frohe Feiertage
Ekki
(Antwort korrigiert am 24.05.2015)

 monalisa (24.05.15)
Sehr empfehlenswert, lieber Ekki, deine Reihe epochentypischer Gedichte; bringt auf den Punkt, worauf es ankommt, und veranschaulicht gleich am jeweils gewählten Gedicht, liefert wertvolle Interpretationsansätze, in die der jeweilige (historische) Hintergrund einfließt und macht Lust auf mehr.

Liebe Grüße
mona

P.S.: Schön, dass du wieder da bist, freut mich ganz besonders !

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.05.15:
Gracie, liebe Mona,
die Interpretation epochentypischer Gedichte verschafft auch mir mehr Klarheit darüber, auf wessen Schultern wir stehen, wenn wir heute Gedichte schreiben. Der Spaß paart sich mit Einsicht.
Ich freue mich über deine Ermunterung und deinen besonders freundlichen Gruß.

Liebe Grüße
Ekki
MarieT (58)
(24.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.05.15:
Merci, Marie, meine Fähigkeit zu vergessen, "verbessert" sich ebenfalls.
Das hat Vorteile, wenn es um Unerwünschtes in der Kommunikation geht. Für die Fakten gibt es ja, wie du schreibst, die Merkfunktion.

Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (15.07.15)
Nicht so Keller, der wohl in der Nachfolge Feuerbachs ohne den Trost irgendeiner Religion oder Metaphysik die Schönheit der diesseitigen Welt fast überschwänglich lobt (...)
Ich frage mich, ob das nicht ein das nicht ein Vermächtnis dieser Zeit ist, das bis heute wirkt. Natürlich fördern so eine Sichtweise auch andere Denkrichtungen, wie z.B. die modernen Naturwissenschaften, aber dieses Denken steht ja im Zusammenhang mit dem Realismus.

Andere Frage: Ich gebe zu, ich habe es noch nicht gelesen - und weiß auch nicht, ob sich das lohnt -, aber so wie du den Realismus beschrieben hast, frage ich mich, ob Felix Dahns "Kampf um Rom" auch dieser Epoche zugeordnet wird?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.07.15:
Danke, Trekan. Feuerbachs Thesen sind als Basis für Atheismus fast noch aktueller geworen als zur Zeit des Realismus.
So, wie ich Felix Dahn in Erinnerung habe, ist er mit der Verklärung der altrömischen Tugenden eher eine Neoromantiker.
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