Europäische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Primo Levi: Die Verdopplung einer schönen Dame

Erzählung zum Thema Liebe, lieben

von  EkkehartMittelberg

Vorbemerkung: Man darf wohl davon ausgehen, dass Sie alle in Ihrer Schulzeit mit deutschsprachigen Kurzgeschichten konfrontiert wurden und sich daran relativ gern erinnern, weil es auch für einen schlechten Deutschlehrer schwierig ist, die Wirkung einer guten Kurzgeschichte kaputtzumachen. Sie haben aber wahrscheinlich die besten europäischen Kurzgeschichten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie in der Schule oder später gelesen, weil es selbst über das Internet schwierig ist, an sie heranzukommen. Nur wenige entscheiden sich, alle Kurzgeschichten eines nicht deutschsprachigen Autors käuflich zu erwerben und zu lesen.
1993 haben Herbert Fuchs, Dieter Seiffert und ich die unseres Erachtens besten europäischen Erzählungen unter dem Titel
„Europäische Erzählungen des 20. Jahrhunderts“
in zwei Bänden bei Cornelsen herausgegeben. Der Absatz an Schulen war nur mäßig. Aber das lag wohl in erster Linie an den deutschen Bildungsplänen, die für diesen Luxus wenig Raum ließen.
Wie auch immer, ich möchte ihnen in Fortsetzung einige dieser Erzählungen vorstellen, falls sie Ihnen gefallen sollten. Doch es gibt da ein Hindernis. Das Urheberrecht erlaubt es mir nicht, sie ganz abzudrucken. Also werde ich sie Ihnen in einer Inhaltsangabe mit Originalzitaten vorstellen.
Und nun zunächst zur Biografie von Primo Levi und dann zu seiner Erzählung.

Primo Levi
Primo Levi (1919-1987) kämpfte als Jude im Widerstand, wurde nach Auschwitz deportiert, wo ihn sowjetische Soldaten befreiten. Als Schriftsteller strebte er nach Klarheit, Verständlichkeit und Ökonomie, sodass man in seinem Werk kaum einen dunklen oder unklaren Satz findet. „Und an bewährten Darstellungsformen hielt er fest, weil er in der Sprache seines Herzens hätte fürchten müssen, die Fassung zu verlieren. So entspringt sein Schreiben einem fast reflexartigen Zwang zur Klarheit, zu einer Transparenz, die eine moralische Forderung an Literatur und Kunst im allgemeinen war.“ (DIE ZEIT, Nr. 44, 23.10. 1992)
Nach der Rückkehr in die Heimat beschrieb er insbesondere das Schicksal der italienischen Juden in „Atempause“ (1963, dt. 1964) und in „Wann, wenn nicht jetzt“ (1982, dt. 1986). Einige seiner besten Erzählungen, autobiografischen Erinnerungen und Parabeln, die in den Jahren 1960-1986 auf der Seite 3 der Zeitung „La Stampa“ zuerst erschienen sind, wurden 1992 in deutscher Sprache unter dem Titel „Die dritte Seite. Liebe aus dem Baukasten und andere Erzählungen und Essays“ veröffentlicht.
Levis Begeisterung für technische Probleme lässt ihn immer wieder das Thema des Homo faber, also des praktisch und technisch begabten Menschen, aufgreifen, so auch in dem Roman „Der Ringschlüssel“ (1978, dt.1992), der mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde.

Primo Levi: „Die Verdopplung einer schönen Dame“
Gilberto, dem Freund des Ich-Erzählers, fällt dessen dreidimensionaler Vervielfältiger in die Hände, eine Erfindung, für die der Erzähler gerade im Gefängnis sitzt.
„Gilberto ist ein Kind unseres Jahrhunderts.“, das nur eine Leidenschaft kennt, zweckfrei allerlei sonderbare Dinge zu erfinden, an vorhandenen zu basteln und sie umzufunktionieren. Seine bezaubernde Frau Emma „erträgt seine Marotten mit bewundernswerter Geduld.“
Anders der Erzähler, der bei Gilbertos begeisterten Telefonaten über seine märchenhaften Experimente auch schon mal den Hörer auflegt. Doch er kann seinem Freund nicht aus dem Wege gehen, als dieser ihn aufsucht, um ihm enthusiastisch zu erzählen, dass er mit seinem (des Erzählers) dreidimensionalen Vervielfältiger, den er zu einem äußerst raffinierten Mimetiker weiterentwickelt hatte, seine Frau Emma verdoppelt habe.
„Mir ist völlig schleierhaft, was Gilberto bewogen haben mag, sich eine zweite Frau zu schaffen und dadurch eine ganze Reihe göttlicher und menschlicher Gesetze zu übertreten. Er erzählte mir, als sei es das Natürlichste von der Welt, dass er in Emma verliebt sei, dass er sie nicht entbehren könne und dass er es aus diesem Grunde für vorteilhaft gehalten habe, zwei Emmas zu besitzen. Vielleicht hat er mir das alles in gutem Glauben erzählt (Gilberto ist immer guten Glaubens), und zweifellos war er in Emma verliebt, auf seine Weise und sozusagen von unten nach oben. Doch bin ich überzeugt davon, dass er sie aus ganz anderen Gründen duplizieren wollte, aus falsch verstandener Abenteuerlust, aus einem krankhaften Herostratentrieb heraus, eben um zu sehen, was das gibt’.“

Gilberto muss seinem Freund schamhaft gestehen, dass er Emma mit Hilfe eines Schlafmittels unter den Mimetiker brachte.

Der Erzähler rechnet damit, dass bald ein Unheil geschehen werde und wird zu einem Familienrat berufen, der aus Gilberto, ihm selbst und den beiden Emmas besteht. Er schildert, dass Emma II in jeder Hinsicht  mit Emma I identisch ist. Gilberto hat bei der Konstruktion des  Mimetikers alles bedacht. Das Bewusstsein der beiden Frauen mitsamt dem Erinnerungsvermögen weist keinerlei Unterschiede auf. Jedoch fällt dem Erzähler auf, dass Emma II stark erkältet ist.

„Ihre Erkältung brachte mich jedoch auf den Gedanken, dass die anfangs absolute Identität nicht von Dauer sein könnte: Selbst wenn Gilberto sich als unparteiischster aller Bigamisten erweisen, wenn er einen stetigen Wechsel einführen und sich jeglicher Bevorzugung der einen oder der anderen Frau enthalten würde (was freilich eine absurde Hypothese war, denn Gilberto ist ein Wirrkopf und Konfusionsrat), selbst dann würde sich irgendwann doch eine Divergenz einstellen. Man brauchte nur zu bedenken, dass die beiden Emmas materiell nicht dasselbe Quantum Raum beanspruchen konnten. Es war ihnen nicht möglich, gleichzeitig durch eine enge Tür zu gehen, gleichzeitig vor einen Schalter zu treten oder bei Tisch denselben Platz einzunehmen. Sie waren demnach wechselnden Einflüssen (siehe die Erkältung) und unterschiedlichen Erlebnissen ausgesetzt. Sie würden sich unausbleiblich voneinander differenzieren, zunächst geistig, dann auch körperlich. Und wenn sie erst einmal differenziert waren, würde Gilberto es dann noch fertigbringen, beiden gegenüber die nämliche Einstellung zu bewahren? Gewiss nicht. Aber selbst bei einer noch so kleinen Bevorzugung müsste das Gleichgewicht zwischen den dreien unweigerlich gestört werden.“

Der Ich-Erzähler macht Gilberto juristische und moralische Vorhaltungen wegen seines Experiments mit den beiden Emmas, doch dieser bleibt unzugänglich. In törichter Euphorie kündigt er eine Reise zu dritt nach Spanien an. Für den verlorengegangenen Pass von Emma I werde er mit dem Mimetiker ein Duplikat ausstellen.

Als die drei von Spanien zurückkehren, steht die Krise unmittelbar vor dem Ausbruch. Es hatte eine Meinungsverschiedenheit über den einzigen Punkt gegeben, an dem sich die Geister scheiden konnten, ob Gilbertos Unterfangen zweckmäßig oder unzweckmäßig, statthaft oder unstatthaft gewesen sei. Während Emma II es rechtfertigt, hatte Emma I geschwiegen. Das genügt, dass sich Gilberto nicht mehr gleichermaßen liebend beiden Emmas zuwenden kann. „Er empfindet Emma I gegenüber eine immer größere Verlegenheit und ein Schuldgefühl, das sich von Tag zu Tag steigert. Zugleich wächst seine Zuneigung zu seiner neuen Frau und verzehrt die Liebe zu seiner legitimen Gattin.“ Es war nur eine Frage der Zeit, dass es zum Bruch kam.

Natürlich geht mit Gilbertos Verhaltensänderung eine Wandlung der Frauen einher. In dem Maße, wie Emma II aufblüht, wird  Emma I spröder. Der Ich-Erzähler beschließt sich aus der verworrenen Angelegenheit herauszuhalten und kann sich eine zugleich boshafte und bekümmerte Genugtuung nicht versagen.

Wenn Sie wie der Ich-Erzähler meinen, dass Gilberto nun in einer unlösbaren Klemme sitze, so haben Sie sich geirrt. Doch lassen wir Gilberto abschließend zu Wort kommen:

„’ Gilberto ist eine Kanone’,sagte er. ’Im Handumdrehen hat er alles in Ordnung gebracht.’ "
’Das freut mich [ meint der Ich-Erzähler] und ich gratuliere dir zu deiner Bescheidenheit. Im übrigen wurde es ja Zeit, dass du Vernunft annahmst.’

„Nein siehst du, du hast mich nicht richtig verstanden. Ich spreche nicht von mir, ich spreche von Gilberto I. Er ist die Kanone. In aller Bescheidenheit sei es gesagt, ich sehe ihm zwar recht ähnlich, aber bei dieser Sache ist mein Verdienst nur gering. Ich existiere erst seit letztem Sonntag. Jetzt ist alles in bester Ordnung, ich muss mir nur noch vor dem Standesamt die Position von Emma II und mir regeln; es ist keineswegs ausgeschlossen, dass wir einen kleinen Trick anwenden müssen, dass beispielsweise Emma II und ich heiraten, obwohl wir uns später den Partner aussuchen werden, der uns zusagt. Und schließlich muss ich mich auch nach einer Arbeit umsehen. Aber ich zweifle nicht daran, dass die NATCA mich bereitwillig als Werbefachmann für den Mimetiker und andere Büromaschinen einstellen wird.’“

Ekkehart Mittelberg, Juni 2015

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(15.07.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.07.15:
Merci, Gerda. Ich finde die naive Überschätzung technischer Möglichkeiten zur Manipulation der Seele durch Gilberto auch zeittypisch interessant und witzig.
Liebe Grüße
Ekki

 TassoTuwas (15.07.15)
Hallo Ekki,
ein Beitrag, der mir Primo Levi interessant macht.
In seiner Erzählung ist er hellseherisch seiner Zeit weit voraus, er hat das Klonen erfunden.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 15.07.15:
Merci, Tasso. Richtig, es geht um das Klonen. Das Reizvolle in dem Text liegt darin, dass über die erschreckende ethische Ahnungslosigkeit des Helden so amüsant witzig erzählt wird.

Herzliche Grüße
Ekki
MarieT (58)
(15.07.15)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 15.07.15:
Grazie, Marie, du bist von denselben Punkten dieser Erzählung fasziniert wie ich, zum einen die frappierende "Lösung" und zum anderen, dass Levi bei seinem Schicksal der Leichtmut nicht verloren ging. Er zeigt mit südländischer Heiterkeit, dass Kritik nicht verkniffen daherkommen muss.

Mit ist sehr wichtig, dass du mich ermunterst, diese Reihe fortzusetzen, denn es gibt noch zahlreiche hochkarätige europäische Erzählungen, die hierzulande nicht bekannt sind.

Liebe Grüße
Ekki
MarieT (58) äußerte darauf am 15.07.15:
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Graeculus (69)
(15.07.15)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 15.07.15:
Naja, Wolfgang, im strengen Sinne ist es keine Rezension, weil ich ja nichts Negatives über Levis Erzählung erwähne, was freilich in diesem Falle auch schwierig wäre.
Im besten Falle handelt es sich um eine interpretierende Nacherzählung, die den Autor mit seinen interessantesten Passagen selbst zu Worte kommen lassen möchte.
Für mich ist ein interessanter Aspekt, wieviel für eine Ethnie Typisches sich trotz aller kulturellen Einebnung in Europa in diesen Erzählungen verrät.
Ein Nordeuropäer hätte sich wohl kaum mit dieser grazilen Leichtigkeit zu dem Thema "Klonen" kritisch geäußert.

 TrekanBelluvitsh (15.07.15)
Selbst wenn Gilberto sich als unparteiischster aller Bigamisten erweisen, wenn er einen stetigen Wechsel einführen und sich jeglicher Bevorzugung der einen oder der anderen Frau enthalten würde (was freilich eine absurde Hypothese war, denn Gilberto ist ein Wirrkopf und Konfusionsrat), selbst dann würde sich irgendwann doch eine Divergenz einstellen.
Gewollt oder ungewollt beschreibt Primo Levi so die Regeln der Evolution.

Ein Plädoyer für die Einzigartigkeit, selbst die Einzigartigkeit von Klonen. (In der SF-Literatur ein ständiges Thema, aber von richtigen Literaten wird die natürlich nicht ernst genommen.) Heute aktueller denn je.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.07.15:
"Gewollt oder ungewollt beschreibt Primo Levi so die Regeln der Evolution." Grazie especiale für diesen besonders interessanten Hinweis, Stefan. Er stimmt. Darauf wäre ich nicht gekommen.
Richtig ist auch dein Hinweis, dass die SF-Literatur viel aufgeschlossener für die Auseinandersetzung mit technologischen Innovationen ist als die sogenannte hohe Literatur.
wa Bash (47)
(15.07.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.07.15:
Danke, wa Bash, es stimmt, dass Levi seiner Zeit hinsichtlich des Themas Klonen nicht voraus war. Es ist freilich bemerkenwert, dass er als Literat so früh spürte, welch gewaltiges Problemthema in den Naturwissenschaften heranwuchs.

 Jorge (16.07.15)
Beste europäische Erzählungen zu finden und sie einem interessierten Kreis von Lesern zugängig zu machen, ist sehr ehrenwert. Mir hat es gefallen, Primo Levis Jonglieren mit zwei Emmas zu verfolgen.
Auch ein solches technisches Gerät (Mimetiker) ist Neuland für mich.
Etwas verwirrend ist für mich die Darstellung, wonach der Erzähler für seine Erfindung im Gefängnis sitzt und sein Freund Gilberto kann mit dieser Erfindung ungestört und putzmunter all diese hochinteressanten Wechselspiele organisieren.
Dann wiederum heißt es:
„Gilberto ist ein Kind unseres Jahrhunderts.“, das nur eine Leidenschaft kennt, zweckfrei allerlei sonderbare Dinge zu erfinden, an vorhandenen zu basteln und sie umzufunktionieren. Seine bezaubernde Frau Emma „erträgt seine Marotten mit bewundernswerter Geduld.“

Sind beide die begnadeten Bastler vor dem Herrn?

Beschreibt Levi also nicht nur die Verdopplung einer schönen Dame, sondern verdoppelt er als Erzähler auch noch Gilberto?

interessierte Grüße

Jorge

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.07.15:
Merci für dein genaues Lesen und für deine Fragen, Jorge.
Ja, der Erzähler und sein Freund Gilberto haben die gleiche Leidenschaft des innovativen "Bastelns". Der Erzähler jedoch ist sich der ethischen Folgen seines Handelns bewusst und büßte dafür im Gefängnis. Gilberto jedoch ist ein Leichtfuß und hat mehr Glück als der Erzähler. So auch in diesem Falle: Indem er sich selbst verdoppelt hat, ist die perfekte Lösung gefunden, nämlich zwei Gilbertos für zwei Emmas. Und da kein Kläger in Sicht ist, scheint Gilberto ein Kind des Glücks zu bleiben.
Dass Primo Levi diese Arglosigkeit humorvoll kritisch sieht, versteht sich von selbst.

Liebe Grüße
Ekki

 RainerMScholz (19.03.21)
Mir ist völlig schleierhaft, wie man "Ist das ein Mensch?" von 1947 nicht erwähnen kann, da sich aus der Beschreibung dieses Traumas alles andere ergibt.
Grüße,
R.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.03.21:
Hallo Rainer, danke dafür, dass du diesen Mangel aufgedeckt hast.
LG
Ekki
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