Der Weihnachtsanruf

Kurzgeschichte zum Thema Abschied

von  shadowrider1982

Es war der vierundzwanzigste Dezember. Es war kein sonderlich schneereiches Weihnachtsfest in diesem Jahr. Weiße Weihnachten, so wie man sie aus Märchen und romantischen Filmen oder Geschichten kennt, hatte es schon länger nicht mehr gegeben. Er saß im Kreis seiner Familie am immer noch reichlich gedeckten Tisch. Das Abendessen war schon vorbei, doch von dem, was nun noch übrig war, wären noch weitere sechs Leute satt geworden. Hin und wieder gab sein Handy einen vertrauten Ton von sich um eine neue Nachricht zu signalisieren. Es war schließlich Weihnachten, die Zeit, in der man sich freundliche Nachrichten schrieb, Glückwünsche fürs neue Jahr, segenlastige Sprüche und bedeutungsschwangere Lebensweisheiten, ob man sich nun besonders mochte, oder nicht. Er zog sein Telefon aus der Tasche um zu erfahren, wer der Verursacher des letzten Signaltons war und diesem pflichtgemäß zu antworten. Er war erstaunt. Sie hatte ihm geschrieben. Es war ein Spruchbild. Das Bild zeigte einen kleinen Schornsteinfeger, neben dem ein Spruch mit Glückwünschen zu lesen war. Es war eines dieser Bilder, wie man sie im Internet auf diversen Seiten findet. Vielleicht war es eines dieser Bilder, die man geschickt bekommt und weitersendet, ohne darüber nachzudenken, um sich selbst nicht die Mühe machen zu müssen, eine Nachricht zu verfassen. Kaum merklich lächelte er. Wehmütige Erinnerungen und schöne, wie auch weniger schöne Bilder erblühten in seinen Gedanken, als er begann, die Antwort zu verfassen.

Er dachte zurück an jenen kalten, sonnigen Novembertag, der den ersten Schnee des Jahres gebracht hatte. Er hatte vor dem Haupteingang gestanden, in der linken Hand eine Tasse von Rosis gutem Kaffee, in der rechten Hand eine Zigarette. Die Sonne hatte von einem azurblauen Himmel ihre letzten herbstlichen Strahlen auf sein Gesicht geworfen. Der Boden hatte wie ein weißer löchriger Teppich ausgesehen. Nur stellenweise hatte die zarte, dünne Schneedecke das getrocknete braune Laub bedeckt. Er hatte sie schon längst im Augenwinkel bemerkt aber weiter keine Notiz von ihr genommen, während er mit seinen Kollegen über die Überflüssigkeit der bevorstehenden Vorlesung im Fach Betriebswirtschaftslehre diskutierte. Die Zeit war schnell vergangen, nach und nach waren Studenten zu ihren nächsten Vorlesungen gegangen und die Treppe und das Podest vor der schweren hölzernen Tür hatten sich geleert. Beim Ausdrücken seiner Zigarette hörte er plötzlich hinter sich: "Müssen wir jetzt echt wieder rein? Hat einer Lust, mit mir einen Schneemann zu bauen?" Er hatte sich umgedreht und direkt vor ihr gestanden. Das war seine erste Erinnerung an sie. Über neun Jahre waren seit ihrer ersten Begegnung nun vergangen.

Seine Schwester bemerkte das sanfte Lächeln in seinem Gesicht und fragte wer ihm geschrieben hatte. Er beantwortete die Frage nur kurz durch ein einziges Wort. Das genügte. Seine Schwester kannte den Namen der Frau, die ihn lange Zeit so intensiv beschäftigt hatte und gab sich grinsend mit der kurzen Antwort zufrieden. Er wusste nicht, ob dieses Grinsen verächtlich, mitleidig oder voller Freude war und vertiefte sich wieder in seine Erinnerungen. Er war auf der Suche nach einer Antwort. Wie oft können sich die Wege zweier Menschen treffen? Zweimal hatte sein Lebensweg schon den Ihren gekreuzt. Zweimal war der Abschied so kalt und bedeutungslos als hätten sie sich nie gekannt.

Damals zum Exmatrikulationsball war er ihr weitestgehend aus dem Weg gegangen. Er hatte es damals für nötig und richtig gehalten. Sie hatten sich in den letzten Monaten ihrer Studienzeit kaum noch gesehen. Sie hatten sich weiträumig umkreist. Wenn zwei Menschen nicht die gleichen Gefühle füreinander haben, nicht die gleichen Bedürfnisse haben, wenn eine ungeklärte emotionale Situation zwischen den beiden vorherrscht, über die nicht geredet werden kann, dann sollte man sich aus dem Weg gehen. Anders kannte er es nicht, anders hatte er es nie gelernt. Und er hatte damals vermutet, dass sie es genau so sah, vielleicht sogar aus den selben Gründen. Als er in dieser Zeit das Lied "shadowriders" geschrieben hatte, war er sich dessen sogar sicher. Zum Exmatrikulationsball hatte sie dann plötzlich vor ihm gestanden, fast so unverhofft wie bei der ersten Begegnung. Sie hatte nach unten gezeigt und ihm das neue Tattoo auf ihrem Knöchel präsentiert. Er hatte seinen Blick über ihren Körper gleiten lassen, langsam vom Gesicht bis zu den Füßen und noch langsamer wieder nach oben. Sie war schon immer eine Augenweide. An diesem Abend, in dem knielangen schwarzen Kleid, mit den hochhackigen Riemchensandalen und einer wunderschönen Frisur hatte sie noch umwerfender ausgesehen, als je zuvor. "Schön!", hatte er mit einem angedeuteten Lächeln gesagt und war direkt an ihr vorbei zurück zu seinem Tisch gegangen. Er hatte sich nicht nach ihr umgedreht. Er wusste nicht, ob sie ihm damals nachgeschaut hatte, oder was man aus ihrem Gesichtsausdruck hätte lesen können. "Schön!", das sollte für fast fünf Jahre das letzte sein, was er zu ihr gesagt hatte.

Fast genau sieben Jahre nach diesem Ball sollten ihre Lebenslinien erneut im rechten Winkel voneinander abzweigen. Das Verhältnis, welches sie zu diesem Zeitpunkt zueinander gehabt hatten, war ein anderes gewesen. Wenn sie mit anderen Kollegen weggegangen waren, zum Essen oder zu einem gemütlichen Abend, dann hatten alle immer festgestellt, wie sich die beiden ohne Worte verstehen konnten. Man hatte förmlich die Spannung gespürt, die es zwischen den beiden gegeben hatte. Die beiden hatten es oft geschafft, die ganze Mannschaft abendfüllend zu unterhalten, mit Anekdoten über den jeweils anderen, mit Sticheleien und derben Witzen und einfach durch die Art, wie sie miteinander umgegangen waren. Nur in den wenigen Momenten in denen sie allein gewesen waren brachten sie kaum mehr zu Wege als Smalltalk, meistens hatte betretenes Schweigen geherrscht, ihre Blicke auf den Boden gerichtet. Als er schließlich seinen letzten Einsatz bei ihrem Arbeitgeber gehabt hatte, war es erneut Zeit für die beiden gewesen, getrennte Wege zu gehen. Am letzten Tag, den er in ihrer scheinbaren Nähe verbracht hatte, hatte er sie gehört. Sie hatte einen Besprechungstermin gehabt, direkt neben dem Büro, in dem man ihn einquartiert hatte. Er hatte ihre Schritte auf dem Korridor gehört. Er hatte ihre Stimme gehört. Er hatte ihr Lachen gehört, übertrieben und laut, wie immer. Sie war nicht zu ihm gekommen. Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet. Er hatte es sich gewünscht, ein paar liebe Worte, eine Umarmung vielleicht. Und so sehr er es sich auch gewünscht hatte, sie noch ein letztes Mal zu sehen, auch er war nicht aufgestanden, um zu ihr zu gehen. Ihr zweiter Abschied verlief gänzlich ohne Abschied. Das war nun drei Monate her.

Sein Vater schenkte eine Runde Schnaps ein. Das restliche Essen war bereits abgeräumt und kühl gestellt. Auf dem Tisch standen die Aschenbecher und es wurde darüber debattiert, welches Spiel in diesem Jahr gespielt werden sollte. Es war Tradition, dass am vierundzwanzigsten Dezember nach dem Essen ein Spieleabend abgehalten wurde. Wie in jedem Jahr würde wohl allein die Entscheidung für ein Spiel mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Auch diese alljährliche Debatte war eine Art Familientradition. Er schlug gerade Monopoly vor, als sein Telefon klingelte. Es war keine neue Nachricht. Es war ein Anruf. Er zog das Telefon aus der Tasche und brach erneut in Erstaunen aus. Sie rief an. Sie rief ihn tatsächlich an. Der Zeitpunkt war nicht wirklich passend, doch das hatte er eigentlich erwarten müssen. Timing war für die beiden schon immer ein Problem.

In ihrer gemeinsamen Studienzeit war bei ihm mehr oder weniger aus Lust und Laune der Plan entstanden, einen Studienkollegen mit ihr zu verkuppeln. Schon nach sehr kurzer Zeit hatte er jedoch bemerkt, dass er in einen Interessenkonflikt geraten war. Sie hatte weit mehr in ihm geweckt, als er erwartet hatte. Sie hatten dann viel Zeit miteinander verbracht. Im privaten Umfeld hatten Sie sich aber kaum jemals gesehen, da keiner von beiden irgendeine Gelegenheit gesehen hatte, sich einfach mal zu treffen. Die Ausnahme hatten einige Studentenpartys gebildet, auf die man ja sowieso gegangen wäre, egal, ob der andere nun dort war oder nicht. Er hatte in dieser Zeit nie etwas gesagt, was auf seine Gefühle hätte hindeuten können. Er hätte nichts sagen können, selbst, wenn er es gewollt hätte. Schließlich war sie liebenswert, er war es nicht. Dass sie in all diesen Monaten Interesse an ihm gezeigt hatte und dieses auch bekundet hatte, wurde ihm erst später klar. Sie hatte alle Mittel eingesetzt, die eine Frau hat, ohne Worte zu benutzen oder sich unter Wert zu verkaufen, doch er hatte es nicht gesehen. Als er sich nach zwei Jahren und einem ziemlich verworrenen, prophetischen Traum mit ihr in der Hauptrolle, doch dafür entscheiden konnte, ihr seine Gefühlslage mitzuteilen, war die Uhr längst abgelaufen. Sie hatte kein Interesse mehr gehabt und ihm mitgeteilt, dass sie sich zwar geehrt fühle aber es jemand anderen gäbe. Die Art und Weise, die er damals gewählt hatte mochte einen Einfluss auf ihre Antwort gehabt haben. Dennoch war er sich sicher, dass sie ihm hauptsächlich deshalb entgangen war, weil er zu viel Zeit hatte verstreichen lassen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Als sie sich Jahre später erneut gegenüber gestanden hatten, sollte sich einmal mehr zeigen, wie gut es die beiden beherrschten, den falschen Zeitpunkt zu wählen. Er hatte damals einen neuen Kunden zur Betreuung zugeteilt bekommen, das Unternehmen, für das sie arbeitete. Ohne zu ahnen, dass er mit der Abteilung zusammen zu arbeiten hatte, in der sie tätig war, hatte er versucht, under cover zu bleiben. Es war ihm einige Monate lang gelungen, einen sehr großen Bogen um sie zu machen, so wie er es gewöhnt war, bis sie schließlich von einem Kollegen von seiner Anwesenheit erfahren hatte. Sie hatten sich schließlich zum gemeinsamen Abendessen verabredet. Er war etwas früher losgegangen und prompt war er in der Fußgängerzone einer jungen Studentin in die Arme gelaufen, die Spender für die SOS-Kinderdörfer rekrutierte. Die Tatsache, dass solche Organisationen nicht ohne Grund junge, optisch ansprechende, offene und freundliche Menschen einsetzen, hatte auch bei ihm Wirkung gezeigt. Noch während er sich von der jungen Blondine bezirzen ließ, war sie um die Ecke gekommen. Er war sich sicher, den Eindruck erweckt zu haben, er ließe sich von jedem Menschen anquatschen, solange dieser Mensch weiblich war. Sie war schließlich mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugekommen um ihn nach all den Jahren in eine Umarmung zu ziehen. Er hatte ihr seine rechte Hand zur Begrüßung entgegengestreckt. Nach einem ausgedehnten mexikanischen Essen und einem sehr guten Whisky war es an der Zeit gewesen, nach Hause zu gehen. Er hatte versucht, sie zu umarmen, während sie ihm die Hand gereicht hatte. Dejà vu. Wieder einmal hätte das Timing nicht schlechter sein können.

Er erhob sich von seinem Stuhl, steckte schnell noch die Schachtel Zigaretten ein, die vor ihm auf dem Tisch lag und nahm den Anruf an. Er hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Wie kam es, dass sie ihn ausgerechnet jetzt anrief? So lange er sie kannte, hatten die beiden noch nie telefoniert. Ein zwiespältiges Gefühl aus Freude und Schwermut erfüllte seine Brust, als er ihre Stimme hörte, während er die Treppe hinunter lief, sich eine Jacke überwarf und das Haus verließ, um für ein paar Minuten Ewigkeit ungestört zu sein mit ihr. Die Begrüßung war herzlich, aber zwanglos. Selbst jetzt, wo sie sicher beide allein waren und sich nicht mal gegenüber standen, verhielten sie sich so, wie sie sich immer unter Kollegen verhalten hatten, herzlich und doch ohne Nähe, bemüht, einen Schein zu wahren, der nicht gewahrt werden konnte. Sie redeten miteinander über alltägliche Dinge. Schon bald fiel ihm auf, dass sie an diesem Abend etwas anderes ausstrahlte als sonst. Er hatte sich im Laufe der Jahre ein Bild von ihr gemalt. Es war kein schönes Bild. Es war das Bild eines Menschen, der ihm selbst so erschreckend ähnlich war. Es war das Bild eines Menschen, dessen Dämonen er nur zu gut kannte. Sie war immer ein extrem energiegeladener Mensch gewesen. Bei ihr gab es nie halbe Sachen. Wenn sie lachte, lachte sie laut, wenn sie wütend war, war sie so wütend, dass man ihr am besten aus dem Weg ging. Als sie ihm aus ihrem Leben erzähle spürte er, diese besondere Mentalität. Sie hatte sich vorgenommen jeden Tag zu leben als wäre es ihr letzter. Sie erzählte ihm von seinem letzten Besuch im KitKat-Club. Offensichtlich entsprach sie auch in sexueller Hinsicht genau dem Bild, das er inzwischen von ihr hatte. Für einen kurzen Moment erwachte etwas in ihm. Es war der Glaube, die Zeit zurückdrehen zu können. Wenn sie wirklich genau so war, wie er dachte, dann könnte das heißen, dass sie zu ihm kompatibel ist. Sie rief ihn an, nach all dieser Zeit zum ersten Mal. War in ihr etwas wieder erwacht, was er längst für tot gehalten hatte? Sein Lächeln konnte nur für einen winzigen Augenblick bestehen. Wenn sie wirklich so war, wie er sie inzwischen sah, dann war sie so wie er selbst. Dann war sie erschreckend kaputt.

Sie unterhielten sich über die vergangene Zeit, über all das, was passiert war, in den Monaten, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Er erzählte ihr von seinem neuen Job, von seinem Leben und auch vom Tod seines Großvaters. Sie wurde ruhiger. Er spürte, dass da gerade etwas unheilvolles passierte. Dann begann sie zu reden. Sie hatte eine Freundin verloren. Die junge Frau war keine dreißig Jahre alt, als sie bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Sie begann zu weinen.

In all der Zeit, die er sie kannte, hatte er sie nie weinen gesehen oder gehört. Er hatte sie nicht mal wirklich traurig gesehen. Immer wenn ihr ein Unglück widerfahren war, war sie sauer, wütend, enttäuscht, aber er hatte sie nie traurig oder niedergeschlagen erlebt. Längst wusste er, dass sie einen dicken Panzer um sich herum trug, genau wie er, auch wenn ihr Schutzschild wohl weit mehr Bestand gegen das Übel der inneren und äußeren Welt haben würde als sein eigener. Aber jetzt weinte sie. Sie weinte bitterlich. Er fühlte einen Kloß in seinem Hals aufsteigen. Er fühlte, wie etwas sein Herz abzuschnüren drohte. Er fühlte, wie ein unheimlicher Druck auf seiner Brust ihm das Atmen erschwerte. Es war der Druck der Erkenntnis. Er sah jetzt, dass er mit allem Recht hatte, was er über sie zu wissen glaubte. Er hätte sich in diesem Moment nichts mehr gewünscht, als sich zu irren. Er hätte sich nichts mehr gewünscht, als sie vollkommen falsch einzuschätzen. Doch er wusste, als er sie weinen hörte, wie nah er der Wahrheit gekommen war. Es war nicht das leise traurige Weinen eines Menschen, der einen persönlichen Verlust zu beklagen hatte. Es war ein Heulen, fast ein Brüllen. Es war das Weinen eines Menschen, der vollständig am Boden liegt. Es war das Weinen eines Menschen, der außer Schmerz und Leere nichts mehr fühlt. Sie vergoss die Art von Tränen, die er selbst hin und wieder vergoss, wenn er sich bis zum depressiven Delirium betrank, um den stinkenden Eiter aus seiner Seele zu drücken. Ihm wurde kalt. Da war so viel Zorn in ihrer Stimme, so viel Enttäuschung, so viel Leere, so viel von all dem, was er selbst nur zu gut kannte, so viel Resignation. Sie merkte nichts von den Tränen, die seine Augen füllten. Seine Fingernägel gruben sich in die Handfläche seiner geballten Faust, um ihm das Sprechen mit ruhiger, fester Stimme zu ermöglichen. Er wollte sie in diesem Moment nur an sich drücken, ihren Schmerz teilen, sie all das vergessen lassen, was da in ihrer Seele brannte.

So schnell und haltlos, wie sie in dieses Loch ohne Boden gefallen war, so schnell hatte sie sich wieder aufgerichtet. Die Tränen versiegten. Nun war nur noch die für sie so typische Überreaktion da. Sie lud ihn ein, zur nächsten Party, bei der sie sich der Lust fremder Menschen hingeben würde, um ihre eigene Einsamkeit zu kompensieren. Er sagte ihr ab. So gern er sie wiedergesehen hätte, zeitlich wäre es ihm zum genannten Termin nicht möglich gewesen. Für einen Moment hatte ihn die Vorstellung gereizt, dorthin zu gehen, sie zu treffen, sie vielleicht so intensiv zu spüren, wie er es sich Jahre lang gewünscht hatte. Und doch wusste er, dass es falsch gewesen wäre. Das, was sie ihm in diesem Moment gegeben hätte, hätte er nicht nehmen können. Es war nicht das, was er wollte. Und er war sicher nicht das, was sie brauchte. Die beiden verabschiedeten sich mit dem Versprechen, bald wieder voneinander zu hören oder zu lesen.

Er drückte seine Zigarette aus und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Als er wieder nach oben ging um am Tisch bei seiner Familie Platz zu nehmen, wirkte sein Gesichtsausdruck so entspannt und beinahe fröhlich, wie er gewirkt hatte, als er die Runde verlassen hatte. Sein Panzer funktionierte und schottete die Außenwelt sicher von der Innenwelt ab. In der Außenwelt genoss er den Abend. In der Innenwelt bedauerte er eine verletzte einsame Seele. Er wusste, wie es ihr ging und das tat ihm weh. Er hoffte, dass ihr irgendwer diesen Schmerz und diese Leere nehmen könnte. Er wusste, dass er es nicht sein konnte und nicht sein würde. Er wusste auch, dass er davon niemals etwas erfahren würde. Er wusste, dass er niemals danach wieder etwas von ihr lesen oder hören oder sehen würde.


Anmerkung von shadowrider1982:

Geschrieben im Februar / März 2016

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