Das Opfer

Kurzgeschichte zum Thema Religion

von  ReinhardGroßmann

„Der Sohn des Priesters“
Vor langer Zeit, an einem fernen Ort, lebte Jonate, der Sohn eines Priesters. Das Land hieß Matunan und war recht hügelig. Jonate lebte mit seinem Vater in einem Dorf am Fuße eines Heiligen Berges. In diesem Dorf lebten auch einige Verwandte, die wie Jonate der Sippe der Priester angehörten.
Jonate besuchte gerne seine Verwandten. Er machte kleine Botengänge für sie, bekam überall etwas Leckeres zu essen, erfuhr etwas Neues und konnte auch die neugierigen Fragen loswerden, für die er bekannt war. Besonders gerne besuchte er seine Tante, die etwas abgelegen in einem grünen Tal, an dem Ufer eines schmalen Flusses wohnte.
„Das Schweigegelübde“
In dem Haus der Tante ging es oft sehr lustig zu. Jonate verstand sich gut mit ihren Söhnen und Töchtern. Eine Tochter hatte die Tante nach der Göttin Ischma benannt. Der Göttin Ischma wurden Opfer dargebracht, wenn sich der Wunsch nach vielen Kindern erfüllen sollte. Die Tante hatte vor vielen Jahren ein Schweigegelübde abgelegt, damit die Göttin Ischma ihr den sehnlichen Kinderwunsch erfülle, so wurde erzählt. Die Tante redete außerhalb ihrer Familie kein Wort – zu Hause aber um so mehr. Jonate wunderte sich darüber. Er sagte aber nichts.

„Der Heilige Berg“
Das Dorf, in dem Jonate wohnte, lag im Schatten des heiligen Berges. Dieser durfte von der Dorfgemeinschaft nur für bestimmte Feste, die zu Ehren des höchsten Gottes Jeshra gefeiert wurden, betreten werden. Unterhalb des Gipfels befand sich eine große Höhle, in der die heilige Flamme brannte. Sie durfte nie erlöschen. Vor der großen Höhle war eine ebene Fläche, die ebenso wie die Höhle für heilige Feste genutzt wurde. Das höchste Fest des Jahres fand an dem Tage statt, an dem die Sonne besonders schwach und kraftlos geworden war und deshalb am Himmel am wenigsten hoch stieg.
„Jonates Bestimmung“
Jonate war dafür ausersehen, wie sein Vater Priester zu werden. Ihm war eröffnet worden, dass dies in einer göttlichen Prophezeiung verkündet worden sei. Jonate wusste: Im Alter von 16 Jahren würde er vor der Gemeinde seine erste Rede halten. Am besagten höchsten Feiertag, der zu Ehren des Gottes Jeshra begangen wurde, in der großen Höhle auf dem heiligen Berg. Danach würde er, sobald er 17 war, zu seinem Onkel, dem Oberpriester der Stadt Godian reisen, um dort eine dreijährige Einweisung zu erhalten und dann zum Priester geweiht werden.

„Die Dürre“
In dem Sommer, in dem Jonate 15 geworden war, überfiel das Land eine große Trockenheit. Die Felder waren nicht fruchtbar. Sehr viele Dorfbewohner hungerten. Jonate hatte bisher die Erfahrung gemacht, dass es in den Häusern der Priesterfamilien immer besonders gutes Essen gab, wenn es den Dorfbewohnern nicht so gut ging. In diesem Jahr war das jedoch anders.
„Die Predigt“
Als es weiterhin nicht regnete, hielt Jonates Vater vor der Dorfgemeinschaft eine eindringliche Predigt. Er sprach: „Ihr habt euch entfernt von dem großen und gütigen Gott Jeshra und seine Gesetze nicht beachtet. Deshalb ist sein Zorn jetzt entbrannt. Tut Buße und bringt ihm Opfer dar. Opfert ihm die Besten eurer Tiere! Dann wird Jeshra gnädig sein und es in Strömen regnen lassen. Eure Felder werden wieder fruchtbar sein! Und ihr werdet leben!“
„Die Kuh“
Das hörte auch Anashi, die Frau eines armen Bauern. Ihr Mann war geschwächt durch den Hunger, und dann sehr krank geworden. Anashi brachte die einzige Kuh der Familie in den Tempel des Dorfes, damit sie Jeshra geopfert werden sollte. Jonate sah, wie die Kuh an den Beinen gebunden und dann auf den Opferaltar Jeshras gelegt wurde. Während der Opferzeremonie tötete Jonates Vater die Kuh mit einem großen Messer. Das Opferblut wurde in einer heiligen Schale aufgefangen. Nach der Zeremonie musste die Gemeinde den Tempel Jeshras verlassen.
Am Tag darauf aß Jonate bei seiner Tante einen ganz besonders leckeren Rinderbraten. Zwei Tage später hörte er, dass der Mann von Anashi gestorben war. Bald darauf fing es wieder an zu regnen. In der folgenden Zeit dachte Jonate oft an Anashi. Sie tat ihm sehr leid.

„Der große Tag rückt näher“
Bald sollte der große Tag kommen, an dem Jonate vor der Gemeinde seine erste Rede halten würde. Sein Vater nahm ihn mit auf den heiligen Berg. Dort sollte Jonate vorher seine Rede in der großen Höhle üben. Den vom Vater vorgebenden Text hatte er auswendig gelernt. Schnell haspelte er ihn herunter. „Hörst du, wie die Höhlenwände deine Worte widerhallen?“ fragte der Vater. „Nicht wirklich.“ antwortete Jonate. „Langsam musst du sprechen“, sagte der Vater. „Langsam und laut. Dann unterstützt der Widerhall der Höhle deine Worte. So werden sie die Wirkung auf deine Zuhörer nicht verfehlen.“ Jonate übte so lange, bis der Vater zufrieden war.

„Der große Tag“
Der große Tag ist gekommen. Auf dem heiligen Berg soll in einer Zeremonie der Gott Jeshra angebetet werden, damit er der Sonne wieder ihre Kraft zurück geben möge. Die Gläubigen versammeln sich zuerst auf dem Kultplatz vor der Höhle. Dort warten sie darauf, dass am Mittag das Sonnenlicht durch ein Felsenloch fällt und das Abbild des heiligen Stieres neben dem Höhleneingang erleuchtet. Jonate nimmt zum ersten Mal an dieser Feier teil. Teilnehmen darf nur, wer in einem Ritus in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden ist, so wie Jonate in diesem Jahr. Deshalb fällt ihm, als künftigem Priester, auch die besondere Aufgabe zu, heute vor der Gemeinde zu sprechen. Jonate ist in Gedanken. Sein Blick fällt auf die Witwe Anashi. Sie tut ihm immer noch leid. Er erinnert sich auch daran, dass er einmal vor ein paar Jahren auf dem heiligen Berg war und gesehen hat, wie die heilige Flamme erlosch. Nur sein Vater und die Tante waren zugegen. Der Vater hat die Flamme schnell wieder angezündet.
Dann erleuchtet die Sonne das Bild des heiligen Stieres. Der heilige Stier – er soll im himmlischen Sternenzelt Wache halten. Jonate erinnert sich, wie er früher manches mal nachts heimlich aus dem Haus schlich, um den heiligen Stier am Himmel zu sehen. Die Gemeinde betritt die Höhle.
„Die Prophezeiung“
Der Vater hält eine Predigt. Dann bittet er die Göttin Ischma um eine Prophezeiung. Die Stimme der Göttin Ischma erschallt. Sie hallt laut von allen Wänden, am lautesten aber von oben, aus der Richtung der Höhlendecke. Die Gemeinde lauscht andächtig. Jonate wundert sich, dass die Stimme
Ischmas genauso klingt, wie die Stimme seiner Tante. Als er mit seinem Vater auf dem Berg war, stieg er auf einen Felsen und konnte sehen, dass es über der großen Höhle noch eine kleine Höhle gibt. Sind etwa beide Höhlen miteinander verbunden ...?
„Jonates Rede“
Jetzt ist Jonate dran. Zögerlich geht er nach vorne. Er schaut durch die Reihen der Gemeinde. Seine Tante kann er nirgends sehen. Jonate hat seine Rede vergessen. Er sagt: „Es tut mir leid, dass ich das sagen muss. Aber ich glaube nicht, dass es den Gott Jeshra gibt, der Macht über die Sonne hat. Ich glaube auch nicht, dass es die Göttin Ischma gibt. Ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendeinen Gott gibt. Behaltet bitte, was ihr nötig braucht und opfert es nicht den Göttern!“ Jonate schaut wortlos auf die Gemeinde. Die Gemeinde schaut wortlos auf ihn. Viele wirken wie starr vor Entsetzen. Dann ruft einer: „Hinaus mit ihm! Hinaus! Das ist eine Gotteslästerung!“ Jonate verlässt die Höhle. Die Gemeinde folgt ihm.
„Vor der großen Höhle“
Draußen auf dem Kultplatz wendet sich Jonate um, er will etwas sagen. Da trifft ihn ein Stein hart an der Brust. Jonate blickt auf, in das wütende Gesicht der Witwe Anashi. Sie hat den Stein geworfen. Weitere Gemeindemitglieder heben Steine auf, um sie auf Jonate zu werfen. Voller Furcht wankt Jonate zum Rand des Kultplatzes. Dort geht es steil hinunter. Dann trifft ihn ein Stein am Kopf. Jonate fällt. Noch bevor er unten im Tal aufschlägt, schwinden ihm die Sinne.

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Kommentare zu diesem Text

Stelzie (55)
(24.03.16)
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 ReinhardGroßmann meinte dazu am 26.03.16:
Vielen Dank Kerstin für die erste Empfehlung, die ich bei KeinVerlag erhalten habe!
(Antwort korrigiert am 26.03.2016)
Festil (59)
(24.03.16)
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 ReinhardGroßmann antwortete darauf am 26.03.16:
Danke Festil, für deinen Willkommensgruß, das Kompliment und die Empfehlung!
swetlana (51)
(24.03.16)
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 ReinhardGroßmann schrieb daraufhin am 26.03.16:
Ich habe beim Titel natürlich zuerst an Jonate gedacht. Beim Lesen bringt man ihn wahrscheinlich zuerst mit dem Opfern der Kuh in Verbindung. Aber es gibt, wie du es andeutest, noch weitere Opfer: Die Gemeinde ist Opfer der Täuschung, Anashi Opfer und Täterin zugleich... Ich bedanke mich für deine Empfehlung.
(Antwort korrigiert am 26.03.2016)
(Antwort korrigiert am 26.03.2016)

 idioma (25.03.16)
Hoffentlich versäumten weder Verfasser noch Liebhaber dieser Geschichte die wundervollen Ersatz-Göttinnen und-Götter im ZDF, die pünktlich zum Gründonnerstagabend (!) für die totale Gehirnumnebelung ihrer ekstatisch kreischenden MassenGemeinde sorgten :
Carmen Nebel meldete sich, UNpünktlich zum Frühlingsanfang, aus der Arena Magdeburg. Sie begrüßte wieder nationale und internationale Gäste wie Howard Carpendale, Marianne Rosenberg und Anastacia. Außerdem mit dabei waren Vicky Leandros, Wencke Myhre, Caught in the Act, VoXXclub, Semino Rossi, Beatrice Egli, Ireen Sheer, Peggy March, Cindy Berger, Hermes House Band, Mitch Keller, Julia Lindholm, das Comedy-Duo "Men in Coats" und Schauspielerin Anja Kling.
Gäste: Semino Rossi, voXXclub, Howard Carpendale, Wencke Myhre, Caught in the Act, Beatrice Egli, Marianne Rosenberg, Vicky Leandros...
idi

 Dieter_Rotmund (25.03.16)
Kein schlechter Einstand, Herr Großmann.

Ich möchte dennoch auf zwei Dinge hinweisen: Nichts gegen Zwischenüberschriften, aber diese in Anführungszeichen zu setzen ist sehr unüblich.
"...vor ein paar Jahren auf dem heiligen Berg war, und gesehen hat" - das Komma ist zu viel.

Mir persönlich gefällt dieser salbunsgvoll-großväterliche Stil nicht, aber das ist wohl Geschmackssache.

 ReinhardGroßmann äußerte darauf am 26.03.16:
Das Komma habe ich raus genommen. Nach der Rechtschreibreform und den Änderungen dazu, beherrsche ich keine Rechtschreibung mehr. Da ist es ein gutes Zeichen, wenn du nicht mehr gefunden hast.
MauritzFlieger (23)
(04.06.16)
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