Brieffreunde

Brief zum Thema Theater

von  theatralisch

Sehr geehrter C. H.,

was machen Sie sich heute aus der Welt?

Ich schreibe, weil mir das Bewusstsein abhanden gekommen ist.

Eines meiner sog. Probleme ist, dass ich nicht an das Leben glauben kann. Darüber hinaus wuchs ich in einem Umfeld auf, das sich nichts daraus machte, mich fanatisch groß werden zu lassen - sie brachten mich dazu, Selbstwertgefühl, das einen Menschen wie mich der altbewährten ursprünglichen Regel nach revoltieren ließe, abzubauen.

Ich glaube also nicht an das Leben. Stellt man mir die Frage nach einer Zukunft, kann ich meistens nur antworten, indem ich sage, dass ich nicht glaube, den kommenden Winter zu überleben. Das alles steckt zu tief.

Steckt das alles denn wirklich zu tief?

Ferner fehlen mir perfektionierter (Perfektion ist immer noch non-existent) Ausdruck, jahrelange Studientage über Büchern, Aufenthalte in Theatern usw.
Denn man kann doch nicht einfach hergehen und sagen: „ICH bin Volksbühne, ich bin das Theater dieser Welt...“ Denn man kann doch nicht einfach hergehen und ebendas sagen, wenn man noch nie in der Volksbühne war oder noch nie wirklich Theater gespielt hat.

Oder kann man das doch sagen, gar behaupten? Kann man etwa von etwas ausgehen, nur weil man vielleicht das Talent dazu besitzt, sich in alle erdenklichen Rollen hineinzuversetzen? Sieht man bspw. C. H. (Sie also), weiß man sofort, wie er jetzt wohl sagen würde, er wollte gerne eine Kirschsaftschorle und einen Kaffee. Das war nur ein Beispiel.

Ich fühle mich gefesselt an eine Stadt, an einen Körper, an eine Mutter, an eine Vergangenheit. Ich fühle mich gefesselt. Die Zukunft ist unermesslich fern.

Wie entfesselt man sich also, ohne draufzugehen?:

Das Leben als Farce betrachten. Was ist Leben schon in Relation mit dem Tod. Leben ist.

Leben ist:
-wahrheitsgemäß kundzutun, wer man zu sein glaubt.
-Empfindungen zuzulassen.
-nicht zu dementieren, dass man auch auf Leben scheißt.
-jemanden aus dem Gefängnis zu holen, der für den Mord einsitzt, den man selbst begangen hat und zu dem Leidwesen -des Insassen jahrelang nicht vom eigenen Bewusstsein davon in Kenntnis gesetzt werden konnte.
-zu wagen, wovon man glaubt, es könnte der verdammten Mutter den Arsch aufreißen.
-nicht zu denken, man müsste seine Eltern lieben, wenn sie nicht liebenswert sind.
-Korruption.
-sich nicht den gesellschaftlichen Niedrigkeiten zuordnen zu lassen.
-vollkommen widerstandslos zu sterben, wenn man sich für Freitod entschieden hat.
-für die eigene Unversehrtheit zu kämpfen.
-nicht wegzulaufen.
-zu wissen, dass der Ausdruck in den Augen derer, die dich nicht kennen, auf Unkenntnis und falscher Erhabenheit beruht.
-basierend auf dem vorherigen Satz - ein Wagnis.
-am Ende jedoch nicht von Bedeutung.

Warum ist Leben am Ende jedoch nicht von Bedeutung?
Leben ist am Ende jedoch nicht von Bedeutung:

aufgrund des unklaren Endes - denn niemand ist befähigt, zu sagen, wann Leben in den Tod übergeht. Manchmal sogar nahtlos; demnach ist es nutzlos, sich gegen sich selbst zur Wehr zu setzen.

Natürlich sind sämtliche Vorsätze und Errungenschaften an Wissen nichtig, wenn man im Alter von 20 von seiner potentiellen - denn man kennt sich nicht - Willenlosigkeit überrollt wird.

Es begann damit, dass ich schrieb, ich glaube nicht an das Leben. Ich glaube nicht nur nicht an das Leben, sondern auch an nichts sonst. Das kompensiere ich damit, wahnsinnig zu sein, also impulsiv bspw.
Irgendwann einmal habe ich erkannt, dass es nur eine einzige Grenze gibt, die von wahrer Bedeutung ist - ebendiese Grenze habe ich überschritten. Es ist die Grenze zur Sterblichkeit, denn jeder Mensch ist unter normalen Umständen dazu befähigt, zwischen Leben und Tod zu differieren.

Herr A. kann sagen, warum er gerne im Theater spielt:

„Ich sehe mich selbst gerne in den Rollen. Wenn dann der Vorhang fällt, bin ich glücklich, aber auch erleichtert, denn es ist so anstrengend, sich einzufühlen bis zum Schluss. Die Grenze ist dann schnell erkannt, meistens kurz bevor der besagte Vorhang fällt.“

Herr A. will sagen, dass er beinahe Angst davor hat, die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit zu überschreiten. Die Anstrengung, welche mit dem Spiel einhergeht, deutet jedoch unbedingt auf seine Unfähigkeit oder eben Fähigkeit, sich im Spiel zu wissen, hin. Er weiß um die Geschicklichkeit seiner selbst, jedoch auch um den Feierabend, der mit dem Fallen des Vorhangs kommt.
Herr A. ist Schauspieler, durchweg.

Frau S. jedoch beschreibt Theater wie folgt:

„Wenn ich eine Rolle übernehme, dann ist das für mich keine Rolle, sondern mit einer ebensolchen Leichtigkeit - von mir aus Schwere, wenn es denn so ist - verbunden wie mein privates Leben. Ich spiele nicht, ich empfinde nur. Im Spiel sehe ich sogar Tote, die gar nie wirklich verstorben sind.“

Frau S. will sagen, dass sie mitnichten Angst hat, weil sie Angst nicht kennt. Angst ist ein dem Universum der um ihre Sterblichkeit wissenden Erdenbürger zuzuordnendes Attribut. Angst heißt: Umdenken. Persönlichkeitsgestörte Menschen jedoch denken nicht um, sondern denken unglaublich schnell. In der Schnelligkeit liegt dann auch die Differenz zweier Welten. Ergebnis: Eine (einzige) Welt.

Eine Welt, in der Wirklichkeit und Fiktion ineinander übergehen. Psychose genannt.

Im Grunde genommen bin ich da wie Frau S., doch die sog. Eltern haben mir vor Jahren das Selbstwertgefühl oder Selbstbewusstsein abtrainiert. Heute rutsche ich auf meiner Kotze dahin. Heute sterbe ich jeden Tag. Heute brauche ich sogar Drogen, um nur mit mir selbst auszukommen. Heute verlangt mein Immunsystem nicht mehr nach einem Spaziergang im Regen.

Ich sehne mich nach einer völlig neuen Welt.

Mit freundlichen Grüßen

...


P.S.
Oder reicht es etwa, unübertrefflich schön zu sein?


Anmerkung von theatralisch:

Was der Zufall hervorgebracht hat, bringt den Zufall hervor.

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