Lucy, multiple Persönlichkeitsstörung

Erzählung zum Thema Identität

von  DeadLightDistrict

Protokoll, Therapiesitzung, Nr. 12
Lucy, 22 Jahre alt, dissoziative Identitätsstörung


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Therapeut: Hallo, Lucy. Wie geht es dir?
Patientin: Hallo. Scheiße... Wie immer halt.
Therapeut: Scheiße? Möchtest du mir ein wenig konkreter erzählen, wie die letzte Woche so gelaufen ist?
Patientin: Ja.
Therapeut: Dann bitte. Fangen wir beim ersten Tag nach der letzten Sitzung an. Erzähl mir doch einfach mal, wie der Tag gelaufen ist.
Patientin: Scheiße. Ok... Irgendwie war es auch gut.
Therapeut: Warum denn ausgerechnet scheiße? Und was war denn konkret gut?
Patientin: Die Erinnerungen kamen.
Therapeut: Und was hast du gemacht in der Situation?
Patientin: Ich hab geweint. Und danach hab ich nachgedacht. Ich hatte Besuch von einem Jungen, der mir einen Brief vorgelesen hat. Er hat mir gesagt, ich soll den Brief behalten und immer wieder lesen, wenn es mir schlecht geht. Und das hat mir geholfen.
Therapeut: Von einem Jungen?
Patientin: Ja. Einem Jungen in meinem Kopf. Er ist sehr intelligent und hilft mir immer. Ich mag ihn.
Therapeut: Von einem Jungen in deinem Kopf?
Patientin: Ja. Er hilft mir immer, wenn es mir schlecht geht. Und er ist älter als ich. Er ist voll nett. Er heißt Jonas.
Therapeut: Älter als du? Wie alt bist du denn?
Patientin: 14.
Therapeut: 14... Gut... Und wie alt ist der Junge?
Patientin: 22.
Therapeut: Und was hat Jonas dir vorgelesen? Magst du mir davon erzählen?
Patientin: Warte. Ich hab den Brief dabei. Holt ein zusammengefaltetes, kariertes Blatt aus ihrer Hosentasche und faltet es auf.
Therapeut: Dann bin ich mal gespannt.
Patientin: Also er hat geschrieben
Liebe Lucy. Die Untoten aus deiner Vergangenheit werden immer wieder zu dir kommen, an deiner Tür klopfen, kratzen und dir Angst machen wollen. Manchmal werden sie auch winseln und dich bitten, sie hineinzulassen. Wenn du jedoch ruhig bleibst, ganz ruhig und abwartest, wirst du auch irgendwann anfangen, nicht nur ruhig zu sein, sondern dich auch tief im Inneren ruhig zu fühlen. Dies wird der Moment sein, an dem du in deiner Mitte sein und keine Angst mehr haben wirst. Irgendwann wirst du wahrnehmen, wie sie umdrehen und verschwinden, weil sie merken werden, dass du dich nicht mehr vor ihnen fürchtest und sie nicht mehr brauchst. Was du dann spüren wirst, wird Stärke sein.
Therapeut: Gut. Jonas scheint ein sehr netter Junge zu sein, der auf dich aufpasst. Und wie ist es weitergegangen?
Patientin: Ich habe mich besser gefühlt... *weint* - Aber ich bin eigentlich groß. Ich weiß, wie ich mir zu helfen habe.
Therapeut: Du bist groß?
Patientin: Ja.
Therapeut: Wie alt bist du denn?
Patientin: Ich bin schon 34 Jahre alt. Also ich weiß, was ich will. Also brauch ich eure Hilfe nicht.
Therapeut: Lucy?
Patientin: Lucy ist jetzt weg. Sie ist schwach. Ich habe sie ins Bett geschickt.
Therapeut: Mit wem spreche ich denn nun?
Patientin: Mit Anita. Lucy ist schwach und soll schlafen gehen. Sie nervt. Immer braucht sie Hilfe. Sie hat keine Hilfe zu brauchen. Basta!
Therapeut: Lucy ist jetzt schlafen?
Patientin: Ja. Ich finde es reicht für sie heute.
Therapeut: Möchtest du dich denn näher beschreiben? Wer bist du?
Patientin: Hallo? Ich habe doch gesagt, ich bin Anita. Begriffsstutzig oder was?
Therapeut: Und was ist deine Funktion?
Patientin: Auf Lucy aufzupassen. Sie ist schwach. Für heute ist erstmal Schluss!
Therapeut: Gut. Kein Problem, Anita. Dann denke ich, dass wir die Sitzung für heute erstmal abbrechen. Ich möchte euch allen dafür danken, dass ihr mitgearbeitet habt, auch wenn es ganz bestimmt nicht einfach für euch war.
Patientin: Gut. Bitte.


Anmerkung von DeadLightDistrict:

Vorsicht. Dieser Text könnte Triggern, für die die an dieser Krankheit erkrankt ist. Für alle anderen, soll dieser Text einen Eindruck in das Innenleben einer Erkrankten bieten. Ich habe mich für ein Gesprächsprotokoll entschieden, da auf diese Weise aus der Perspektive des Beobachters alle Facetten dieser Krankheit am deutlichsten zur Geltung kommen.

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Kommentare zu diesem Text


 Judas (17.05.16)
Hm. Interessantes, schweres Thema. Ich bin grade noch unentschlossen, ob ich den Text gut finde oder eher so meh. Deswegen bleib ich einfach bei "interessant" und finde es mutig, dass du dich in dieser Form an das Thema heran traust.

 DeadLightDistrict meinte dazu am 17.05.16:
trotz des Hin-und-Her-Gerissen-Seins: Danke dir :)

 Inlines (17.05.16)
Hallo DLD,

schade, dass die Triggerwarnung erst am Schluss kommt, auf der anderen Seite würde es wohl die Form kaputtmachen.

Zum Text selber kann ich sagen, dass du die Krankheit recht nachvollziehbar dargestellt hast. Der Dialog ist gelungen.

Man muss vielleicht dazu sagen, dass es sich hierbei um die maximale Ausprägung einer dissoziativen Störung handelt, und diese nur durch heftigste und wiederholte Traumatisierungen entsteht.

FG El B.

 DeadLightDistrict antwortete darauf am 17.05.16:
Hallo,

danke für deinen Kommentar. Ja, ich muss dir Recht geben, was die beschriebene Ausprägung der Krankheit betrifft. Das war von mir so gewollt. LG DLD

 Judas schrieb daraufhin am 18.05.16:
Empfehle an der Stelle "Aufschrei" von Trudy Chase.

 DeadLightDistrict äußerte darauf am 18.05.16:
Danke Judas. Aber das Buch ist mir bereits bekannt :)
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