Epochentypische Gedichte. Romantik. Dorothea Schlegel (1764-1839): Draußen so heller Sonnenschein

Interpretation zum Thema Freiheit/ Unfreiheit

von  EkkehartMittelberg

Draußen so heller Sonnenschein,
Alter Mann, lass mich hinaus!
Ich kann jetzt nicht geduldig sein,
Lernen und bleiben zu Haus.
 
Mit lustigem Trompetenklang
Ziehet die Reuterschar dort,
Mir ist im Zimmer hier so bang,
Alter Mann, laß mich doch fort!
 
  Er bleibt ungerührt,
  Er hört mich nicht:
  »Erlaubt wird, was dir gebührt,
  Tust du erst deine Pflicht!«
 
Pflicht ist des Alten streng Gebot;
Ach, armes Kind! du kennst sie nicht,
Du fühlst nur ungerechte Not,
Und Tränen netzen dein Gesicht.
 
Wenn es dann längst vorüber ist,
Wonach du trugst Verlangen,
Dann gönnt man dir zu spät die Frist,
Wenn Klang und Schein vergangen!
 
    Was du gewähnt,
    Wonach dich gesehnt,
    Das findest du nicht:
    Doch bleibt betränt
    Noch lang dein Gesicht.

Ich schicke meiner Interpretation das Leben der Dorothea Schlegel voraus, das mit seinen Veränderungen der Konfession wie ihr o.a. Gedicht ebenfalls typisch romantisch ist.

„Dorothea Friederike Schlegel, geborene Brendel Mendelssohn, (* 24. Oktober 1764 in Berlin; † 3. August 1839 in Frankfurt am Main[3]) war eine Literaturkritikerin und Schriftstellerin der Romantik, Lebensgefährtin und spätere Ehefrau von Friedrich Schlegel. Die Tochter des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn war eine der prominentesten jüdischen Frauen, die um 1800 zum Christentum übertraten.  [...]
Mit 14 Jahren wurde sie im Jahr 1778 mit dem zehn Jahre älteren Kaufmann Simon Veit verlobt, den sie am 30. April 1783 im Alter von 18 Jahren heiratete.  […]                                                        Im Salon ihrer Freundin Henriette Herz lernte sie im Juli 1797 den jungen Friedrich Schlegel kennen. Daraufhin ließ sie sich am 11. Januar 1799 durch ein Rabbinatsgericht scheiden, wobei sie sich verpflichtete, nicht wieder zu heiraten, sich nicht taufen zu lassen und ihre Kinder nicht zum Übertritt zum Christentum zu bewegen
Anschließend lebte sie frei und öffentlich mit Friedrich Schlegel zusammen. Sie zog mit ihm, seinem Bruder August Wilhelm Schlegel und dessen Frau Caroline nach Jena, um dort, wo sich mit Novalis, Tieck und Schelling ein Zentrum der literarischen Romantik etablierte, eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zu bilden. Friedrich Schlegels für damalige Verhältnisse skandalöser Roman Lucinde ist eine ins Programmatische ausgeweitete Darstellung ihres Zusammenlebens.
1804 erfolgte in Paris ihr Übertritt zum Protestantismus und die Trauung mit Friedrich Schlegel. 1808 wechselte sie in Köln erneut die Religion, diesmal gemeinsam mit Friedrich Schlegel, indem sie zum Katholizismus übertrat – wofür Schlegels protestantische Familie, die diesen Religionswechsel missbilligte, sie verantwortlich machte. Die Tochter des prominenten jüdischen Vertreters der Aufklärung und Toleranz war nun gemeinsam mit ihrem zweiten Mann davon überzeugt, dass es außerhalb der katholischen Kirche kein Heil gebe und bemühte sich, unter ihren Freunden und in ihrer Familie Proselyten zu werben, worauf sich auch ihre beiden Söhne katholisch taufen ließen. Nach zwanzigjährigem Aufenthalt in Wien, wo Schlegel die Stelle eines Hofsekretärs innehatte, zog sie nach dessen Tod zu ihrem Sohn Philipp Veit nach Frankfurt, der dort Direktor des Städelschen Kunstinstituts war.
[...]
Für ihren ersten Roman Florentin, erschienen anonym 1801, waren Goethes Wilhelm Meister und Franz Sternbalds Wanderungen von Tieck Vorbilder. Ferner unternahm sie Übersetzungen aus dem Französischen (u.a. Madame de Staëls Corinne und die Erinnerungen der Margarete von Valois) und verfasste literaturkritische Arbeiten.“
(Quelle:Wikipedia)

Die Romantik ist die Epoche des Ausbruchs der Seele in eine grenzenlose Welt der Phantasie.
Wir sehen dies in Eichendorffs „Mondnacht“.
„Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.“

oder in seinem Gedicht „Sehnsucht“
[...]
„Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht. “
[...]

Das junge Mädchen in Dorothea Schlegels Gedicht weiß nichts davon, dass die Sehnsucht nach Entgrenzung und unerreichbarer Ferne für das dichterische Programm der Romantik wesentlich ist.  Es sehnt sich, einem natürlichen Triebe folgend, aus der bürgerlichen Enge der Pflichterfüllung hinaus nach draußen, wo es Befreiung von der Beschränkung zu finden hofft.
Beim Interpretieren dieses Gedichts war das lyrische Ich für mich zweifelsfrei ein junges Mädchen, bis ich merkte, dass Dorothea Schlegel dies nirgends ausdrücklich sagt. Ich denke aber, mit dieser Festlegung wird das Gedicht viel aussagekräftiger, als wenn man sich einen Jungen zwischen Pflicht und Neigung vorstellt.
Wahrscheinlich hat Dorothea Schlegel, Tochter des aufklärerischen jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, das Eingesperrtsein in der Kindheit, Motiv ihres Gedichts, selbst nicht erlebt. Gleichwohl fühlt sie sich kongenial in diese Situation ein. Wer das Gedicht auf den Konflikt „Primat der Pflicht vs. heller Sonnenschein“ reduziert, nimmt ihm seinen Reiz. Das Motiv ist genauer „Männliches Pflichtprinzip vs. (romantische) Sehnsucht eines jungen Mädchens nach Welt“.
Das Gedicht ermöglicht einen Vergleich mit Eichendorffs Taugenichts. Dem ist „so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine.“ Zwar schimpft dessen Vater auch über die Pflichtvergessenheit seines Jungen, doch er zieht eine ganz andere „männliche“  Konsequenz. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.“
Auch eine Assoziation an Schillers Glocke mag sich beim Lesen einstellen, wo die Welt für den Mann, das Haus für die Frau bestimmt ist.
Auf die überkommene Rollenfixierung reagiert Dorothea Schlegel mit einem anrührenden „Protest“. Indem sie den Konflikt zwischen einem alten Mann und einem Mädchen darstellt, macht sie die Identifizierung mit dem Kindweib noch leichter.
                                          „Pflicht ist des Alten streng Gebot,
                                          Ach, armes Kind! du kennst sie nicht.“
Es bleibt in der Schwebe, ob das Mädchen die Pflicht nicht kennt, weil es noch so jung ist, oder weil sie ihm wesensfremd ist.
Die Welt draußen lockt nicht nur mit so hellem Sonnenschein, sondern auch mit typisch romantischen Signalen:
                                          „Mit lustigem Trompetenklang
                                          Ziehet die Reuterschar dort“ (Z. 5f.)
Man fühlt sich noch einmal an Eichendorff erinnert:
                                          „Es schienen so golden die Sterne
                                          Am Fenster ich einsam stand
                                          Und hörte aus weiter Ferne
                                          Ein Posthorn im stillen Land.
                                          […]
                                          Ach, wer da mitreisen könnte
                                          In der prächtigen Sommernacht!“
Der Vergleich zeigt, dass die romantischen Signale bis zu einem gewissen Grade austauschbar sind. Es ist nämlich nicht so entscheidend, ob das Draußen mit hellem Sonnenschein oder mit prächtiger Sommernacht lockt. Wichtig ist, das dem Eingesperrtsein im Hause für die Pflicht Entgrenzung gegenüber gestellt wird, die der Sehnsucht Raum gibt.
Es ist nicht sonderlich überraschend, dass Dorothea Schlegel gegen die Pflicht, gegen die männliche Disziplin Sehnsucht und Verlangen setzt, ungewöhnlich und typisch romantisch ist aber, dass dem unerbittlichen Sein der positiv besetzte Begriff „Schein“ gegenübergestellt wird:
                                          „Dann gönnt man dir zu spät die Frist,
                                          Wenn Klang und Schein vergangen ist!“ (Z. 19f.)
Das Gedicht schließt mit dem betränten Gesicht des Mädchens. Es bleibt stimmig, wenn man eine Frau an dessen Stelle setzt. Denn abgesehen von einigen privilegierten Ausnahmen, zu denen Schlegel selbst gehörte, galt – ihr sehr bewusst – auch für die Frauen ihrer Epoche
                                            „`Erlaubt wird, was dir gebührt,
                                            Tust du erst deine Pflicht!`“ (Z.11 f.)

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(26.07.16)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.07.16:
Merci. Das freut mich.

 Augustus (26.07.16)
wann wurde das Gedicht verfasst, weiß man das?
es lässt sich sehr vieles durch die "blaue Blume" zu den Romantikern im übrigen sagen.

Ave
Augustus

ps: das Geburtsjahr ist im Titel einmal auf 1963 und einandermal im Anfang der Biografie auf 1964 gesetzt...
(Kommentar korrigiert am 26.07.2016)

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 26.07.16:
Danke, Augustus, dass du auf die Widersprüche des Geburtsjahrs von Dorothea Schlegel hingewiesen hast. Man findet die Zahlen 1763 und 1764. Da mir die Quellen für 1764 zuverlässiger erscheinen, habe ich 1764 jetzt auch in der Überschrift übernommen.
Das Gedicht scheint 1801 verfasst worden zu sein.
chichi† (80)
(26.07.16)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 26.07.16:
Merci, Gerda
LG
Ekki
Absinth (62)
(26.07.16)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
wa Bash (47)
(26.07.16)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 26.07.16:
Merci, wa Bash, ich denke auch, dass Dorothea Schlegels Gedicht als Ansatz zum Feminismus verstanden werden kann und sich gleichwohl auch als Ausdruck eines Generationenkonflikts lesen lässt.

 TassoTuwas (28.07.16)
Herzlichen Dank!
Wieder einmal ausführliche Gedanken zum Lesen und Verinnerlichen.
Gruß
TT

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 28.07.16:
Danke. Es freut mich, dass sie dir gefallen, Tasso.
BG
Ekki

 Dieter Wal (30.07.16)
Was berührte DICH an diesem Gedicht so sehr, dass du diesen Essay schriebst?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.08.16:
die Hilflosigkeit des jungen Mädchens, das in einer patriarchalischen Welt der Ordnung festgehalten wird, und ein sachlicher Grund, Dieter. Es ist keine große Lyrik, aber wie oben hoffentlich begründet, typische Romantik.
(Antwort korrigiert am 01.08.2016)

 Dieter Wal meinte dazu am 01.08.16:
Danke. Hast du zufällig Carola Sterns «Ich möchte mir Flügel wünschen» Das Leben der Dorothea Schlegel. (1991) gelesen?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.08.16:
Nein, vielen Dank für den Tipp.

 Bergmann (31.07.16)
Interessanter Vergleich. Gut gemacht.
Allerdings ziehe ich der Lyrik Dorothea Schlegels das Lachen Caroline Schlegels vor, als sie beim Anhören von Schillers "Glocke" fast vom Stuhl gefallen war ...
Herzlichst: Uli

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.08.16:
Merci, Uli. Vielleicht hätte Dorothea mit Caroline gelacht.
Dorotheas Gedicht ist kein großes Kunstwerk. Es passt zu dem noch naiven Lebensgefühl des jungen Mädchens.
Herzlichst
Ekki

 TrekanBelluvitsh (01.08.16)
Ich finde es gut, dass du bei der Interpretation dich durchaus vorwagst (eine junge Frau annehmend, obwohl das nicht ausdrücklich im Gedicht steht). Ich weiß natürlich nicht, ob das die vorherrschende Interpretation zu diesem Gedicht ist, aber mir gefällt das, weil es dem Ganzen den Eindruck verleiht, dass du die Leser in deinen Gedankengänge mitnimmst.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.08.16:
Merci, Trekan, wenn sich dieser Eindruck einstellt, freue ich mich.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram