Epochentypische Gedichte. Eine aufrüttelnde Stimme in der Adenauer-Zeit. Günter Eich: „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht.“

Interpretation zum Thema Gesellschaftskritik

von  EkkehartMittelberg

Das Leben Günter Eichs ist im Internet mehrfach dokumentiert. Der Wikipedia-Artikel lässt nichts aus, was für das Verständnis des Gedichts „Wacht auf...“ wichtig wäre. Günter Eich lavierte während des Nationalsozialismus zwischen distanziertem Mitmachen und innerer Emigration.
Während der politischen Windstille der Adenauer-Zeit war er aber unter den deutschsprachigen Lyrikern einer der wichtigsten Mahner für ein waches politisches Bewusstsein in einer Epoche, die die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und ihre Folgen mit bleiernem Totschweigen  verdrängen wollte und den Konsum des Wirtschaftswunders zum Götzen erhob.
Das 1950 verfasste und 1951 im Rahmen der Hörspielsendung „Träume“ „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!“ findet sich in vollem Wortlaut mehrfach im Internet,
http://www.deutschelyrik.de/index.php/wacht-auf.html
u.a. auch in einer eindrucksvollen Lesung von Fritz Stavenhagen auf You Tube. Es ist kein selbstständiges Gedicht, sondern das Ende des 5. Traums aus Eichs Hörspiel „Träume“, das wegen seines aufrührerischen Textes zum von Eich bewusst initiierten Skandalon wurde.
„Das Hörspiel Träume wird zur ’Geburtsstunde der notwendigen Herausforderung des Publikums durch das Hörspiel’ schreibt Heinz Schwitzke, Dramaturg Eichs und Hörspielchef des größten deutschen Rundfunksenders, des Nordwestdeutschen Rundfunks […]. Eich lässt eine Person seines Hörspiels Die Brandung von Setúbal (1957) sagen: ’Dichter, die niemanden erschrecken, sind zu nichts anderem wert, als dass man sich über sie unterhält.’“ (Vgl. Vorwort zu Träume, S.6)
Dass Eich in dieser Weise mit seinen programmatischen Äußerungen und der Dichtung selbst aufrütteln will, ist aus der restaurativen Tendenz der Adenauer-Zeit zum Rückzug ins Unpolitische und zum Vergessen zu erklären.
In Wacht auf hat Eich die Metapher des Schlafs für das Vergessen und Verdrängen gewählt. Ihm ist daran gelegten, den Zusammenhang des Vergessens und Verdrängens mit der Saturiertheit der fünfziger Jahre („oh, angenehmer Schlaf,/wenn der Braten fett und das Gemüse zart“), mit der Trägheit der Herzen („Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andere [...]“; „Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!“) und mit der Anspruchslosigkeit des Denkens („[…] das genügt, das Gehirn zu beschäftigen“ ) herzustellen.
Es ist spezifisch für die politische Lyrik Eichs, dass sie sich parteipolitisch nicht festmachen lässt, sondern überparteilich auf Moral setzt. Typisch dafür ist das Beispiel der wegen Abtreibung Angeklagten. Die in der Adenauer-Zeit begonnene Diskussion über den Paragraphen 218 wurde von dessen Befürwortern und Gegnern mit intensiven Appellen an die Moral geführt, so auch von Eich, der das drastische Bild der Mutter mit den sieben Kindern ausmalt.
Eich evoziert gleich zu Beginn seiner Verse „das Entsetzliche“, um damit das bequeme Verdrängen zu bedrohen. Die angestrebte bedrückende Wirkung soll u.a. damit erreicht werden, dass dessen Umrisse vage bleiben und dadurch mit obsessiven Assoziationen gefüllt werden können. Später versucht er den Gleichgültigen metaphorisch jeden Ausweg zu versperren: „ Schon läuft der Strom in den Umzäumungen und die Posten sind aufgestellt.“
                                „lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:
                                sie sind genauer. Roll die seekarten auf,
                                eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.“
Nicht nur in diesem Gedicht Enzensbergers gibt es mehrere Anklänge an Eich. Ein großer Dichter und Moralist hat mit seinem Gedicht große Nachfolger gefunden.

© Ekkehart Mittelberg, August 2016

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (11.08.16)
(...) in einer Epoche, die die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und und ihre Folgen mit bleiernem Totschweigen verdrängen wollte (...)
Ah, welch wunderbare Zeit, vergleicht man sie mit heut’ in der sich jeder zum Opfer stilisiert, per WLAN aus dem Urlaub von Norderney posten kann, wie übel ihm doch mitgespielt wird.

(Ok, das hat nichts mit deinem wie immer interessanten Text zu tun, ’tschuldigung.)
(Kommentar korrigiert am 11.08.2016)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.08.16:
In der unpolitischen Adenauer-Zeit löste man in der Lyrik friedlich ein Blumenorakel nach dem anderen. Heute, wo das catch as catch can üblich ist, muss ein Literat sehr langweilig sein, wenn ihm nicht mitgespielt wird. Merci.
Graeculus (69) antwortete darauf am 11.08.16:
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 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 11.08.16:
@ Graeculus:
Wobei ... "Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von Gestern" klingt sehr internetaktuell. KV-aktuell wird es, wenn man es ein wenig umstellt: Was kümmert mich mein dummer Avatar von Gestern.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 11.08.16:
@Graeculus: Liegt deiner Einschätzung meiner Interpretation vielleicht ein Missverständnis zugrunde? Welcher kreative Mensch möchte in die Adenauer-Zeit zurück? Aber ihr bleierner Stillstand hat doch die großartig schrecklichen Visionen von Günter Eichs "Träumen" erst ermöglicht, deren flammende Warnungen auch heute noch aktuell und nötig sind. Ich hoffe damit die von dir vermisste Empathie mit Eich deutlich genug ausgedrückt zu haben.
Graeculus (69) ergänzte dazu am 12.08.16:
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 idioma (11.08.16)
DANKE für Dein vielsagendes Erinnern an dieses wichtigen Gedicht !
( = ein Gedicht "nach Auschwitz"...... )

Natürlich war das Stoff im Deutschunterricht damals....
und die letzte Zeile isoliert wurde zur Überschrift eines Deutsch-Aufsatzes.....

Durch Deine Zeilen hab ich das Gedicht nun wieder gelesen und bin zutiefst schockiert WIE HOCHAKTUELL es ist !!! da sich im Grunde nichts verändert, sondern sich im Gegenteil alles gewaltig und zu globalen Dimensionen verschärft hat und es wirklich allerallerhöchste Zeit ist wirklich aufzuwachen......

idioma
(Kommentar korrigiert am 11.08.2016)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.08.16:
Danke. Es freut mich, dass auch du dieses Gedicht für immer noch aktuell hältst, Idioma.
Das Aufwachen gelingt wohl nur, wenn die Weckrufe nicht nachlassen.
Absinth (62)
(11.08.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.08.16:
Merci, Absinth, das stimmt. Vielleicht kann man die Vergessenheit ein wenig verringern.
BG
Ekki

 Didi.Costaire (11.08.16)
Der Mensch ist nicht zum Helden geboren, lieber Ekki. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich wohl auch den Braten und den Nachmittagsschlaf gewählt. In den beiden letzten Versen kann ich mich aber auf jeden Fall gut wiederfinden.
Beste Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.08.16:
Didi, wer sich in den beiden letzten Versen wiederfindet, ist doch schon ein halber Held. ). Gracie
Beste Grüße
Ekki
wa Bash (47)
(11.08.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.08.16:
Danke, das freut mich.

 TassoTuwas (12.08.16)
Hallo Ekki,
der Mensch lebt im Augenblick.
Wenn gerade die Lebensmittelmarken abgeschafft sind, steht der saftige Braten und das feine Gemüse im Mittelpunkt, zumal am Himmel B-17 und Tu-2 mit der Bombe unterwegs sind.
Wenn der Rufer in der Wüste nicht Gehör findet, dann ergeht es dem Rufer im Wirtschaftswunderland nicht besser.
Zur Beruhigung des Gewissens gibt es ja die Literaten, auch heute.
Herzliche Grüße
TT
(Kommentar korrigiert am 12.08.2016)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.08.16:
Oja, Tasso, Rufer laufen Gefahr, Feigenblatt eines Systems zu werden. Merci.
Herzliche Grüße
Ekki
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