white room

Text zum Thema Hoffnung/Hoffnungslosigkeit

von  keinB

Jedes Mal, wenn sie das Zimmer betritt, hat sie das Gefühl, der Raum würde atmen. Die Fenster sind gekippt, die Vorhänge zugezogen und zu schwer, als dass ein etwaiger Luftstoß sie rühren könnte. Nur spärlich bricht Sonnenlicht herein. Der Raum ist groß und fast leer, und doch erdrückt er sie, jedes Mal ein bisschen mehr.
Sie mag ihn nicht.

Die Wände sind weiß, kahl bis auf ein Ölbild, ein Stillleben, die obligate Obstschale, ein Teil der Tischplatte, auf der sie thront und, wie könnte es anders sein, ein rötlicher schimmernder Apfel daneben. Er liegt in der rechten unteren Ecke. Sie beachtet das Bild nie. Irgendein Onkel hat es gemalt, vor Jahren schon, inzwischen verstorben und sicher sanft zur letzten Ruhe gebettet.
Unter dem Bild steht ein kleiner Tisch. Gelbe und rote Tulpen welken darauf müßig in einer Kristallvase. An der Wand gegenüber steht das Bett.

Sie hält den Atem an, wenn sie den Raum betritt. Es geschieht unwillkürlich, es ist ihr nicht bewusst. Sie atmet durch den Mund. Sie versteht den Geruch nicht, sie erträgt ihn kaum, ohne Würgen zu müssen.

Sie spricht mit dem Raum. Im Raum. In ihn hinein. Sie wird nicht gehört, das weiß sie. Es macht nichts. Sie spricht mit den Vorhängen, wenn sie die Fenster öffnet oder schließt, sie spricht mit den Salzlösungen in ihren Plastikbeuteln, wenn sie sie erneuert, sie spricht mit den Windeln, die sie wechselt. Den Körper, der im Bett welkt, ignoriert sie so gut sie kann. Sie wäscht ihn mechanisch, sie dreht ihn wie beiläufig. Er ist nur noch Hülle, nicht mehr Gefäß.

Die Vorhänge halten den Tag aus dem Zimmer. Sie schließt die Tür nie. Die Tür zu schließen würde bedeuten, zuzugeben, dass der begonnene Zerfall unabhängig ist vom Rest der Welt. Dass dieser Raum eine eigene, kleine Welt für sich selbst ist.
Sie zwingt sich, nicht darüber nachzudenken. Gedanken änderten nichts, schon gar nicht Gedanken.

Aber manchmal entwischen sie ihr. Die Gedanken. Dann stellt sie sich vor, dass sie selbst die Macht über das letzte Luftholen hat, einfach, indem sie Tür schließt. Dass das Leben im Raum abhängig ist davon, dass es mit ihr verbunden bleibt.

Jeden Morgen fällt ihr das Aufstehen ein bisschen schwerer. Einmal am Tag mustert sie den Körper: Sind die Wangen weiter eingefallen? Sind die Atemzüge tiefer? Die Zeit zwischen den Atemzügen länger? Ist es soweit?

Jede Nacht erinnert sie sich daran, dass sie bald die Einzige ist, die einzig Übrige. Das macht sie unendlich traurig und ebenso müde, aber noch mehr erschöpft es sie. Sie liegt im Bett und spürt, wie der Raum am anderen Ende des Flures das Leben aus ihr heraussaugt. Wie der ausgemergelte, eingefallene Körper durch die geöffnete Tür nach ihrem Atem giert.


Der Körper ist zäh. Er ist nur Hülle, aber er weigert sich, aufzugeben.
Sie muss das Kissen dreimal wieder zur Hand nehmen, ehe er nachgibt. Sie legt das linke Ohr auf den Brustkorb und lauscht und kann doch nicht mit Bestimmtheit sagen, da ihr das Blut zu sehr im Kopf rauscht.
Der fehlende Puls erlöst sie schließlich.

Es ist Euphorie, die sich durch ihre Adern schlängelt, ein vages Gefühl von Freiheit. Endlich, denkt sie, endlich, nach all diesen Jahren, selbstbestimmt. Sie verlässt den Raum und schließt die Tür.

Für einen kurzen Moment ist sie frei, und -
Dann hat die Leere sie eingeholt.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (16.10.16)
Eine gedanklich und stilistisch hervorragende psychologische Studie.
LG
Ekki

 keinB meinte dazu am 16.10.16:
Dankeschön, freut mich. :)

Liebe Grüße
KB
Graeculus (69)
(16.10.16)
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 keinB antwortete darauf am 16.10.16:
Ich hab gegooglet, aber nix gefunden - wer?

Dankeschön :)
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