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Novelle zum Thema Weihnachten

von  Skala

„Und?“, empfing ihn der Schaffner neugierig, als er zum letzten Mal in den Zug stieg. „Wie war Ihr letztes Weihnachten?“
Ohne ein Wort lief Kowalski an ihm vorbei und ließ sich wieder in einen Sitz fallen. „Schwer zu sagen“, nuschelte er. „Ich ... ich bin mir noch nicht ganz sicher.“ Er setzte sich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. Als er bemerkte, dass sich neben ihm etwas regte, blickte er auf. Der Schaffner hielt ihm fürsorglich ein Taschentuch unter die Nase. „Danke“, schniefte Kowalski, nahm das Tuch und schnäuzte sich geräuschvoll.
„Verwirrt zu sein ist ganz normal“, erklärte der Schaffner sanft. „Sie sind noch lange nicht mein verwirrtester Kunde.“
„Kann ich mir nur schwer vorstellen“, murmelte Kowalski und kaute auf seiner Unterlippe herum. Dann blickte er auf. „Sagen Sie ... was ich gesehen habe, war doch die Wahrheit, oder? Genau so sind meine Weihnachtsfeiertage abgelaufen, nicht wahr?“
„So und nicht anders“, bestätigte der Schaffner. „Zweifeln Sie etwa an unserer Integrität?“
Kowalski schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Es ist nur so ... ich hatte das letzte Weihnachtsfest ganz anders in Erinnerung. Viel ... harmonischer.“
Der Schaffner nickte zufrieden. „Da sehen Sie mal, was unser Gedächtnis alles mit uns anstellt.“

Kowalski verzog das Gesicht. „Wenn ich ehrlich bin, erklärt das aber vieles“, gab er zu. „Eigentlich sogar alles.“
Der Schaffner zog die Augenbrauen in die Höhe. „Das sage ich sonst eher selten, aber: Das müssten Sie mir etwas genauer erklären.“
Kowalski rieb seine müden Augen. Er sehnte sich nach seinem Bett, aber darauf würde er wohl noch eine Weile warten müssen. „Tatjana“, erklärte er.
„Ihre Verlobte?“
„Meine Verlobte, richtig. Ich hatte das ganze letzte Jahr über das Gefühl, dass wir uns auseinanderlebten, und ich konnte mir partout nicht erklären, warum. Es war doch alles so wunderbar gewesen – unser Urlaub in Frankreich, mein Heiratsantrag an Weihnachten ...“
„Au Backe“, murmelte der Schaffner.
„Wie bitte?“, erwiderte Kowalski.
„Nichts, gar nichts. Vermutlich muss ich Ihnen noch zugutehalten, dass Sie sich nicht den Valentinstag ausgesucht haben.“
Kowalski verdrehte die Augen. „Vielleicht haben Sie Recht, aber ... nun ja, nachdem ich mir unser letztes Weihnachtsfest habe anschauen dürfen, sehe ich jetzt vieles klarer. Tatjana und ich haben uns nicht auseinandergelebt – es gab niemals ein wirkliches, gemeinsames Wir. Wahrscheinlich habe ich ihre Unzufriedenheit mit mir, mit unserer Beziehung, mit eigentlich allem nur nicht richtig wahrgenommen.“
„Die rosarote Brille“, bestätigte der Schaffner. „Ein Klassiker – den sehe ich bei meinen üblichen Kunden allerdings eher selten. Ich muss schon sagen, Herr Kowalski, Sie sind mir eine willkommene Abwechslung.“

„Freut mich sehr.“ Kowalski starrte trübsinnig auf das triste Muster der abgewetzten Sitzpolster. „Bevor ich in diesen Zug eingestiegen bin, dachte ich, ich könnte nicht damit leben, dass unsere Beziehung ihr Ende findet, ohne dass wir es je vor den Traualtar geschafft haben. Ich hätte niemanden mehr gehabt, von meiner Mutter einmal abgesehen. Aber jetzt ...“
„Jetzt?“
„Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich mit dieser Beziehung leben konnte.“
„Aha“, gab der Schaffner schlicht von sich. Er stand mit verschränkten Armen neben Kowalskis Sitz und musterte seinen Fahrgast interessiert. Dieser ließ den Kopf hängen und schielte dann zu seiner verbeulten, mit Gras und Erde verschmierten Aktentasche. Dann griff er, einer plötzlichen Eingebung folgend hinein und zog das dünne Seil heraus, das der Schaffner ihm zu Beginn seiner Reise großzügig gelassen hatte. „Bitte, nehmen Sie das. Ich weiß, Sie glauben nicht, dass ich damit etwas anfangen könnte, aber sehen Sie es bitte als Symbol.“
„Oha.“ Der Schaffner nickte anerkennend und streckte die Hand nach dem Strick aus. „Meinen Respekt. Dann wollen Sie also nicht mehr Schluss machen?“
Kowalski lächelte. „Oh doch“, sagte er. „Aber anders, als ich es geplant hatte.“

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