Morgen

Kurzprosa zum Thema Morgenstimmung

von  StillerHeld

Zwischen einförmig grauen Hausmauern friert die Morgendämmerung. Es ist so still. Nebel hängt in der Luft, gerinnt am Fallrohr der rostigen Dachrinne, sammelt sich in schweren Tropfen, die träge vor sich hin hängen, wachsen und schließlich fallen. Am Boden angekommen, verlieren sie sich in der Nässe. Die Nässe ist überall, in der Luft, an den Mauern, am Boden.

Das Geräusch unsicherer Schritte. Ein Schatten bewegt sich durch die Nebelwände: ein alter Mann, der sich durch die Kälte schleppt. Er stützt sich immer wieder an den Hauswänden ab, schiebt sich langsam, mit unsicheren Schritten vorwärts.

An einer Stiege, die zu einem Hauseingang führt, macht er halt. Er bückt sich langsam, die Bewegung bereitet ihm Mühe. Er schiebt Pappbecher und Zigarettenstummel beiseite, breitet einen braunen Faltkarton aus und setzt sich auf die Unterlage. Er rückt seine erdbraune Schiebermütze zurecht, zieht seinen Mantel aus grauer, grober Wolle fester um die Schultern und neigt seinen Oberkörper etwas nach vor. Seine Hände umklammern die Ellbogen. Er fröstelt. Sein Atem verliert sich als Wolke im Nebel. Es ist wieder still, nur das Herz des Alten klopft, ganz für sich. So wandert die Zeit.

Vorhang um Vorhang fällt. Konturen wachsen aus dem Nebel, Kanten, Linien, Formen erwachen, bald auch die Farben, zaghaft zuerst, dann mutiger. Verschämt zeigen die alten Fassaden ihre aufplatzenden Wunden. Hinter dem ein oder anderen Fenster wird es hell. Im ersten Stock schwingt knarrend ein weißer hölzerner Fensterflügel auf. Der erste Passant eilt durch die Gasse, den Hut tief ins Gesicht gezogen, die Gedanken weit vor sich herjagend.

Ein Sonnenstrahl tastet sich vorsichtig durch die verwinkelte Gasse. Menschen folgen seiner Spur, gehetzt und bedächtig, tragen ihre Sorgen mühsam in den neuen Tag oder sind voll aufregender Pläne, sie lachen und plaudern miteinander, die andern schweigen sich aus.

Als es ein bisschen wärmer wird, nimmt der alte Mann seine Mütze vom Kopf und hält sie den Vorbeieilenden hin. Denen, die bei ihm stehen bleiben, gibt er ein Lächeln mit auf den Weg.

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Kommentare zu diesem Text

Festil (59)
(26.01.17)
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