Demeter und der nimmersatte Erisychthon

Glosse zum Thema Essen/ Ernährung

von  ManMan

Sie haben heute gut gespeist? Ich gönne es Ihnen von Herzen. Kümmern Sie sich nicht um diesen ganzen Diät-Quatsch, sondern genießen Sie! Moralisch anstößig ist das auch nicht, wenn wir Bert Brecht folgen, der den so schlichten wie eingängigen Satz erfand: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Wobei ich nicht sicher bin, ob der Satz in Wahrheit anders herum lauten muss, also dass zuerst die Moral da ist und dann das Essen. In der kindlichen Phase meines Lebens haben wir vor dem Essen gebetet: „Lieber Gott, ich bitte dich, gib mir was zu essen. Will auch lieb und artig sein, beten nicht vergessen.“ Und dann durften wir mit gutem Gewissen reinhauen, was das Zeug hielt. Bis wir satt waren. Später, auf dem Gymnasium lernten wir dann allerlei Märchenhaftes aus der Antike. Das Meiste eignete sich besonders gut zur Anhebung des moralischen Status des Schülers, weil dieser aus allem eine Lehre ziehen konnte. Ein Märchen ist bei mir besonders hängen geblieben. Es eignet sich für alle Menschen, die eine Fressattacke haben und nicht aufhören können, etwas in sich hinein zu stopfen. Es ist folgende Geschichte:
In der Nähe eines Haines, der der Göttin Demeter geweiht war, lebte ein reicher Mann namens Erisychthon. Da er vorhatte, ein Gasthaus mit einem großen Speisesaal zu bauen, machte er sich daran, Bäume des Hains als Bauholz zu fällen. Demeter kam, verkleidet als alte Frau zu ihm und warnte: „Lass das sein! Weißt du nicht, dass diese Bäume der Göttin Demeter geweiht sind?“ Dummerweise nahm Erychthon den Rat der alten Frau nicht ernst, sondern holzte alle Bäume bis auf einen ab. Der sollte der Göttin reichen... Demeter war stinksauer und sandte einen Fluch auf Erysichthon: Ab sofort hatte der Mann einen unstillbaren Hunger. Alles schmeckte ihm, alles aß er. Aber er wurde nicht dicker sondern dünner. So groß wurde sein Hunger, dass er sogar nachts aufstehen musste, um zu essen, denn der Hunger ließ ihn nicht schlafen. Bald hatte er sein ganzes Vermögen für Essen ausgegeben. Eine Tochter, deren Name uns nicht überliefert ist, verdingte sich als Prostituierte, um mit dem Geld Lebensmittel für den Vater zu beschaffen. Auch dieses Geld reichte bald nicht mehr. Und jetzt wird es unappetitlich:  Erysichthon begann, seine eigenen Körperteile aufzuessen, bis nur noch ein kauender Kopf übrig blieb und die Zähne an den Lippen zu nagen begannen... 
Ersparen wir uns weitere Einzelheiten! Wir aufgeklärte Menschen von heute wissen schließlich, dass das eine unwirkliche Geschichte ist, quasi an den Haaren herbeigezogen, wenn es auf dem Kopf noch Haare gab. Zählen wir also lieber Kalorien und gönnen uns zwischendurch eine Auszeit. So eine wird sogar jener legendäre Sisyphos gehabt haben, selbst wenn es damals noch keine Gewerkschaft gab. Auch er wird den Stein mal eine Zeit lang liegen gelassen haben, bevor er sich an das mühsame Werk machte, ihn wieder nach oben zu rollen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann rollt er ihn noch heute.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(28.10.17)
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