Gegenwart und Erinnerung

Tagebuch

von  tulpenrot

Da stapfte ich als 4- jähriges Mädchen früh morgens zusammen mit der alten Bäuerin tapfer ins nächste Dorf. Sie hatte ihre oberbayrische dunkle Feiertags-Tracht an. Es war Sonntag. Ich hatte zuvor staunend beobachtet, dass sie sich frische Blumen ins Mieder steckte und einen schwarzen Hut mit den schwarzen, breiten Seidenbändern aufsetzte, die mit ihrem Zopf zusammen weit über die Taille reichten. In diesem Sonntagsstaat ging sie mit mir zur Kirche. Sie nahm mich offensichtlich gerne mit. Meine Mutter und ich machten auf ihrem Bauernhof Ferien. Wenn es erlaubt gewesen wäre, wäre meine Mutter wohl mitgegangen, aber sie war evangelisch. Ich jedoch war katholisch getauft, weil mein Vater katholisch war. Dass ich neben unserer  Gastgeberin, die stolz ihre Sonntags-Tracht trug, zur Messe in einer Dorfkirche gehen durfte, fand ich aufregend.

Wir setzten uns in eine der letzten Bankreihen. Ich sah fast nichts von dem, was vorne am Altar geschah. Große Männer in ihren dunklen Trachten-Joppen standen oder saßen vor mir. Was vom Priester gesprochen wurde, verstand ich nicht. Damals wurde die Messe noch auf Lateinisch gesprochen und gesungen. Mitsingen konnte ich auch nicht, obwohl mir die Bäuerin das Gesangbuch vors Gesicht hielt – ich konnte ja noch nicht lesen. So langweilig hatte ich mir eine Messe nicht vorgestellt. Ich wurde schläfrig und kämpfte mit aufsteigender Übelkeit. Der Weihrauch roch so aufdringlich. Und meine Beine fühlten sich mit der Zeit so schlapp an, wenn ich entsprechend der Liturgie aufstehen musste oder knien sollte. Ich machte mir Sorgen, ob ich den Heimweg wohl schaffen würde, oder ob mir die Beine vorher wegknickten. Eine halbe Stunde Fußmarsch zurück zum Bauernhof lag vor mir. Als ob es die Bäuerin geahnt hätte – sie ging mit mir nach der Messe ins Wirtshaus neben der Kirche. Wie die meisten Kirchgänger damals. Dort roch es zwar nach Saurem und Bier. Es wurde derb gelacht und laut geredet. Aber ich bekam ein Glas Apfelsaft und eine kleine Weißwurst mit Brot. Ich war schnell satt. Wie gut!

An diese Episode denke ich heute – 65 Jahre später – als ich aus der Dämmerung des Rottenburger Doms auf den Marktplatz trete. Seit sechs Jahren wohne ich in einem Dorf in der Nähe, 15 Autominuten entfernt. Dieses Kirchengebäude gefällt mir. Unaufdringlich, schlicht, ja geradezu sparsam ist die Einrichtung: Ein weiß gestrichener, freundlicher Innenraum mit zeitgemäßem, hellem Gestühl, dazu die 12 Apostelfiguren auf den hohen Simsen an den Seitenwänden des Kirchenschiffes. Weit vorgezogen, also nahe zur Gemeinde, ein eindrucksvoll gestalteter hellgrauer Steinaltar auf einer schwarzglänzenden Steinstufe. Alte, vielfarbige Kirchenfenster im Altarraum, hingegen graue, moderne  im Kirchenschiff. Ein verhältnismäßig kleiner Kruzifixus hängt hoch oben von der Decke herab. Er fällt kaum auf. Seit etwa 50 Jahren bin ich evangelisch und bin nur als Besucherin da, empfinde aber eine wohltuende, heilige Stille an diesem Ort.

Es ist Sonntagnachmittag, ein Spätsommertag. Menschen sitzen an kleinen Tischen vor der Eisdiele oder hocken auf dem Rand des Marktbrunnens und genießen ein Eis. Die Nachmittagssonne wärmt noch, bevor schon bald die Abendkühle eintritt. Die Eisdiele liegt direkt neben dem Kirchengebäude. Auch ich hole mir ein Eis, schlendere noch durch die Gassen und fahre nach einer Weile mit dem Auto nach Hause.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (22.09.17)
Interessante Mischung aus Erinnerungen und neuen Erlebnissen. LG

 tulpenrot meinte dazu am 22.09.17:
Danke und viele Grüße
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram