Das Märchen vom Wurstbrot

Kurzprosa zum Thema Toleranz/ Intoleranz

von  Remy

Wenn dir nachmittags betrunkene Ü40-Deutsche entgegen kommen, weißt du, es ist Maiwoche. Ein Samstag in der Innenstadt wirkt wie ein großes Volksfest, ein Schützenfest, auf dem die Deutschen den trüben Alltag ausblenden können und einen Grund haben, das erste Bier vor vier zu trinken. Bei meinem favorisierten Asiaimbiss warte ich hinter zwei glatzköpfigen Männern, deren Mundwinkel nach unten zeigen und einer dreiköpfigen Familien in Designerklamotten. An Werkstagen sieht man hier in der Regel junge Menschen, Studenten oder Asiaten. Der Imbiss besitzt weniger als ein Dutzend Sitzplätze. An Festtagen, bei denen das Geld größtenteils für Bier draufgeht, darf es auch mal ein günstiger Happen beim Chinesen sein – auch wenn es ein vietnamesisches Restaurant ist – alles gleich. Heute gebratene Nudeln mit Ente süß-sauer, morgen ein Kreuz auf dem Wahlzettel der AfD.
 
Wenn ich diese Art von Wurstbrotdeutschen sehe – in Abgrenzung zu den „normalen“ Deutschen – muss ich an den Ex-Freund meiner Mutter denken, den ich liebevoll vor Freunden „Arschlochfreund“ nannte, denn „Heino“ war kein Name, bei dem man sich wohlfühlte, ihn auszusprechen. Jedenfalls trug der Arschlochfreund meiner Mutter den Namen zurecht. Er war groß, breit und muskulös gebaut, aber mit Bierbauch. Sein Gesicht sah aus wie das von Anthony Hopkins. Meinen Hund richtete er ab, vor der Tür der „Schwuchtelbar“, die sich gegenüber befand, zu kacken, auch im Restaurant schlug er ihn, wenn er bellte. Am Essenstisch wurde sich darüber echauffiert, dass die Bonzen doch alle an ihrem Geld verrecken sollten und über die Ausländer, die Menschen niederer Klasse waren, obwohl meine Mutter selbst gebürtige Singhalesin ist, dunkelbraun, die Augen in der selben Farbe und schwarzes Haar. Einmal saß sein glatzköpfiger Nazifreund am Tisch und meinte zu ihm, dass seine Freundin ja auch keine Deutsche sei, darauf antwortete das Arschloch, „So arisch wollen wir mal nicht sein.“. Er besaß keinen richtigen Job, stattdessen reparierte er Autos und verkaufte sie anschließend. Dafür holte er sich einen Zwanzigjährigen aus Polen, der ein kleines Zimmer in der oberen Etage bekam, seine Bezahlung deutlich unter Mindestlohn, schuftete er jeden Tag von morgens bis abends, an guten Tagen bekam er eine Pause, die er nutzte, um mit meinem Bruder und mir Basketball zu spielen. An einem Samstagnachmittag fuhren wir mit dem Auto auf den Hof, der junge Pole stand dort, das Arschloch stieg aus, ging auf ihn zu und schlug ihn mit voller Kraft zu Boden. Warum? Das habe ich mit zwölf Jahren nicht verstanden, danach auch nicht. Der junge Pole verließ anschließend wieder Deutschland und kehrte nach Warschau zurück, zurück zu seiner Familie und Freundin, die er jeden Abend schmerzlichst vermisste. Wenn das Arschloch trank, wurde er überemotional, entweder aggressiv oder arg peinlich. Beim Essen rülpste und furzte er, wen wundert es, dass ich mit dreizehn Jahren aufhörte, mit am Tisch zu sitzen und stattdessen in meinem Zimmer am Schreibtisch aß. Wenn ich über die Maiwoche gehe, sehe ich verschiedene Variationen des Arschlochfreunds, deshalb vermeide ich es.
 
Trotz meiner teils deutschen Wurzeln und der Tatsache, dass ich in diesem Land geboren wurde, fühle ich mich unwohl innerhalb deutscher Menschenmassen. Schwarze Haare sieht man nur gefärbt, braune Teints nur als Resultat des Sonnenbankflavours. Wie müssen sich wohl die Flüchtlinge fühlen, die dieses Spektakel zum ersten Mal erleben? Bisher habe ich keinen in der Innenstadt entdeckt, nur einen in der Altstadt, der an der Bushaltestelle auf den Bus wartete. Gegenüber sah er in der „Altstadthütte“ ein Haufen deutscher Frauen, schätzungsweise die fünfziger Marke bereits geknackt, bei ihrem Junggesellenabschied rumkreischen. „Hildegard, mach ein Foto, los jetzt, mach mal hinne, du Olle!“. Der Flüchtling kann seinen Blick nicht abwenden, aber von der Seite sehen seine müden Augen aus, als begreife er, dass Krieg nicht der schlimmste Anblick auf Erden sei. Ein paar Meter weiter sehe ich an einer Biertheke ohne Kundschaft ein Mädchen hinter den Tresen, die ich von früher kannte, aber mit der ich nichts mehr zu tun hatte, wahrscheinlich wegen des Loches in meinem Schuh und weil ich keine Markenkleidung trug und unfähig war, hinter dem Rücken über meine Freunde zu lästern – „wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde“. Sie sieht gelangweilt aus, rollt mit den Augen, obwohl das Schamtheater noch gar nicht begonnen hat. Ich grinse innerlich und gehe weiter.
 
Während ich das Tor zu unserem Wohnhaus schließe, empfinde ich erneut das Gefühl, in Deutschland nicht heimisch zu sein. Trotz des Auflebens rechter Gesinnungen in Europa, besonders auch in Frankreich, fühle ich mir dort wesentlich wohler. Frankreich ist multikultureller als Deutschland. Die Menschen sind höflicher, „Danke“, „Bitte“, „Gerne“ gehören zur Selbstverständlichkeit. In einer Zugkabine saß ich gegenüber eines dunkelhäutigen Mannes, der sofort aufstand, als eine ältere weiße Frau die Kabine betrat, ihren Koffer nahm, ihn über der Sitzfläche deponierte, sie Platz nehmen ließ und sich erst dann wieder setzte. Ähnliches war in der Pariser Metro zu beobachten. Eine ältere weiße Frau überließ ihren Platz einer schwangeren schwarzen Frau jüngeren Alters. Jedenfalls habe ich in Deutschland diese Freundlichkeit nur sehr selten gesehen, in Frankreich täglich. Ich würde mir wünschen, die Deutschen würden untereinander und insbesondere gegenüber Menschen aller Kulturen und Hautfarben diese Nächstenliebe zeigen, aber vielleicht erwarte ich zu viel. Hier wirkt es wie ein utopischer Gedanke, anderswo wie ein realistischer. Ich träume von einem weltoffenen Deutschland, in dem man nicht gefragt wird, woher man gebürtig komme, sondern alle Menschen direkt mit einem Lächeln begrüßt, als sei es ein alter Bekannter, ein Gleichgesinnter und kein Fremder. Trotzdem würde ich mich nicht als links bezeichnen, sondern mich politisch mittig ansiedeln, weil ich erkenne, dass unbedingter Idealismus nicht umsetzbar ist, politische Entscheidungen auf Kompromissen beruhen und daher die Flüchtlingsfrage nicht zu beantworten ist. Zudem reicht es nicht, die Symptome zu behandeln, ohne die Ursachen zu bekämpfen. Jedenfalls geht es mir nicht um Politisches, sondern um eine gesellschaftliche Veränderung angesichts der biederen Mentalität. Und wer weiß, vielleicht tanzen eines Tages Menschen verschiedener Kulturen, aus Syrien, Eritrea, Deutschland, Russland, Polen, angetrunken und nüchtern, gemeinsam Hand in Hand, friedlich auf der Maiwoche zu Schlager. Wie genial wäre das? Ich muss schmunzeln.


Anmerkung von Remy:

Text vom 14. Mai 2016.

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Kommentare zu diesem Text


 niemand (16.12.17)
Ein Text welcher beim Lesen eine ziemliche Zwiespältigkeit hervorruft. Meine Frage hinsichtlich des in der "ich-Form" Schreibens wäre: Ist es autobiographisch, oder suggeriert es das nur und der Text ist "erfunden" [nicht autobiographisch].
Wie dem auch sei, frage ich micht weiterhin was diese Mutter
[eine Singhalesin, laut Text] an ihrem "Arschlochfreund" denn fand? Wie konnte sie mit solch einem Menschen überhaupt zusammenleben? Wirft ja eigentlich auch kein gutes Bild auf sie. Es gibt da so einen alten Spruch:"Sage mir wer deine Freunde sind und ich sage dir wer du bist".
Was ich schon lange nicht mehr hören kann, ist diese negative Verallgemeinerung einem Land gegenüber, sprich der Bundesdeutsche bewundert permanent ander Länder, andere, fremde Menschen/Sitten etc. und zieht genauso permanent über sein Land her. Das mit den Versoffenen und den Nazis und den Grölenden Menschen, welche hierzulande im Übermaß vorhande zu sein scheinen [in anderen Ländern gibt es solche
Charakterschweine nicht, Gott bewahre!] hat auch schon solch einen Bart, dass selbst Gott, wenn es ihn gäbe, neidisch werden könnte. Die ganze Welt ist voller guter Menschen [im Text der Pole, dessen guten Charakter ich garnicht bezweifeln möchte,
aber ich lebte jahrelang in Polen und mir sind Charakterschweine, Wodkasäufer etc, ständig begegnet] also die ganze Welt ist voller Heiliger [charakterlich betrachtet]
nur der Deutsche ist ein Charakterschwein. Der Tenor dieses Textes will mir absolut nicht gefallen. Damit will ich allerdings 1. nicht bezweifeln, dass es genügend Arschlöcher gibt 2. nicht bezweifeln dass es genügend nationalistisch Gesinnter gibt
[gibt es in Polen übrigens auch!] nur laut Text sind diese nur hier bei uns zu finden. Ehlich gesagt, kann ich das nicht mehr hören. Nichts für ungut, aber das hat wirklich einen Bart.
LG niemand

 Remy meinte dazu am 16.12.17:
Autobiographisch? Teils, teils. Es ist stets sinnvoller, den Erzähler von meiner Person zu trennen, weil ich i.d.R. Reales mit mehr fiktiven Ansätzen zusammenmische.
Ja, richtig, es wirft kein gutes Licht auf die Mutter. Wie Frauen mit solchen Männern zusammenleben können, das fragen sich viele von uns täglich oder nicht?
Ja, natürlich gibt es überall auf der Welt Arschlöcher, das sehe ich ebenso. Der Text ist bewusst provokant und verallgemeinernd geschrieben. Ebenso werden viele Hyperbeln benutzt, bspw. "Der Flüchtling kann seinen Blick nicht abwenden, aber von der Seite sehen seine müden Augen aus, als begreife er, dass Krieg nicht der schlimmste Anblick auf Erden sei."
Das darf man einfach nicht ernst nehmen und genauso darf man dann die Provokationen der Verallgemeinerung der Deutschen nicht zu ernstnehmen, gerade weil diese Ernsthaftigkeit und Spießhaftigkeit doch auf die Schippe genommen und kritisiert wird. Wenn man sich deshalb mokiert, bestätigt man beinahe den Text.
Und nochmals möchte ich betonen, Arschlöcher gibt es überall auf der Welt, in jedem Land, in jeder Stadt, in jedem Umfeld.
Danke für deinen Kommentar und das Lesen.
PS: Der Text ist auch "älter", ich würde ihn heute anders schreiben, da ich auch andere Ansichten vertrete.

Antwort geändert am 16.12.2017 um 14:35 Uhr
toltten_plag (42)
(17.12.17)
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