Schindelkinder

Gedicht zum Thema Abendstimmung

von  Irma

Der Westwind stürmt und Ziegel fliegen.
Die Wolke bricht, stürzt Wassermassen
aufs Dach. Die Vogeleltern lassen
ihr Nest im Stich. Drei Fläumchen liegen
dicht beinander: unterkühlt,
durchnässt, fast völlig regungslos.

Die Rinne wird zum Fluss und spült das Floß
davon. - Die junge Brut ertrinkt
im Wasserfall der dunklen Röhre.

Hoch oben auf der alten Föhre
sitzt die Amsel, singt ihr Lied.

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Kommentare zu diesem Text


 monalisa (11.03.18)
Liebe Irma, ja da spielen sich ganz große Dramen ab, und die Amsel singt, als ob nicht gewesen wäre. Ein Bild, das sich aus der Vogelwelt leicht auf vieles andere übertragen lässt. Naja, Menschen sind auch nur komische Vögel 😊.

In meinen Augen ist es dir sehr gut gelungen, die Drammatik auszudrücken. Das Gedicht nimmt nicht zuletzt durch die Enjambement ordentlich Fahrt auf, da wird die LeserIn mit durchgespült.

Wir haben uns schon mal über die Enjambements ausgetauscht und darüber, dass wenn ein Vers unbetont endet, der nächste ebenso unbetont beginnt, das zu einer kurzen Unterbrechung des Flussen führen kann. Hier empfinde ich es an zwei Stelle ähnlich, bei 'Wassermassen aufs Dach' und bei 'liegen dicht beieinander' (wobei ich hier dicht automatisch betont lese und die Verzögerung erst bei 'beieinander' erfolgt) Im letzten Vers hast du auch auf die unbetonte Silbe am Beginn verzichtet: '...Föhre sitzt die Amsel' , das könnte ich mir an den beiden vorher genannten Stellen auch gut vorstellen. ( '...auf das Dach' etwa, dann müsste man vielleicht bei (Vogel)Eltern Silben einsparen) Ich lass dir das einfach mal so als Anregung da. Seltsamerweise hat mich die kleine Pause bei '...lassen ihr Nest' nicht gestört. Dürfte also doch subjektiv und nicht 100%ig zu erklären sein 😉.

Zu 'ertrinkt' - passt das 'Lied' als Reimpartner nicht wirklich, diese Assonaz ist sehr gut gesetzt, geht mit dem Inhalt eine schöne Symbiose ein. Auch das 'unterkühlt' findet keinen Endreimpartner, dafür verbündet es sich im Versinneren mit 'davongespült' - der bedauernswerte Zustand der Unterkühlung wird noch getoppt!

Für die ersten beiden Verse hatte ich auch noch einen Einfall, der nicht den Anspruch erhebt, besser zu sein als das von dir vorgelegte. Ich lass es dir dennoch da:

Der Westwind stiebt und Ziegel fliegen.
Die Wolke bricht, gießt Wassermassen ...

Die Vokalhäufung auf 'i' fände ich irgendwie reizvoll.
Insgesamt arbeitest du ja sehr viel auf dieser klanglichen Ebene, mit Aliterationen und Assonanzen ... etc.
Gefällt mir sehr!

Liebe Grüße
mona

Kommentar geändert am 11.03.2018 um 10:32 Uhr

 Irma meinte dazu am 22.03.18:
Liebe Mona, vielen lieben Dank für deinen langen und ausführlichen Kommentar und dein Einfühlen in mein Gedicht. Habe mich sehr darüber gefreut!

Ja, am Anfang von V.5 habe ich auch schon eine Weile herumgepopelt. Und du hast Recht, hier wäre eine Auftaktlosigkeit nicht nur für den Lesefluss gut, sondern auch inhaltlich begründet: Das Fehlen der beschützenden Vogeleltern, das Fehlen der Wärme. (Ähnlich dem letzten Vers, wo die Vogelkinder fehlen.)

Ich habe jetzt überlegt zwischen "beieinander, unterkühlt", "dicht beisammen, unterkühlt" sowie "dicht beinander, unterkühlt". Habe mich jetzt für die letzte Variante entschieden. Das "beinander" ist natürlich unkorrekt bzw. umgangssprachlich, aber diese Zusammenrückung passt in meinen Augen gut zu den vor Kälte eng aneinandergekuschelten Küken. Den Übergang von V.2 zu V.3 werde ich aber, denke ich so lassen. Hier empfinde ich die kleine Pause eigentlich wenig störend. Der Sturzbach ergießt sich - ja genau - aufs Dach, aufs Vogelnest, ausgerechnet.

Deinen Vorschlag für die ersten Zeilen ("stiebt" - "gießt") finde ich klanglich schön, allerdings kann nach meinem Sprachgefühl der Wind nicht "stieben", sondern nur irgendwelche kleinen Teilchen wie beispielsweise Schneeflocken. Zudem fand ich den sturzbachartigen "Ü"ber-Fluss ("stürmt", "stürzt", "unterkühlt", "spült" auch recht reiz- und reißvoll.

Ganz liebe Grüße zurück, Irma

Antwort geändert am 22.03.2018 um 13:27 Uhr

 Isaban (11.03.18)
Hallo Irmchen,
in V1 würde ich Schindeln oder Dachziegel (der Westwind stürmt, Dachziegel fliegen) fliegen lassen, der Sturm trägt eher selten Ziegelsteine ab - aber vielleicht werden die Dachdinger ja regional unterschiedlich benannt?

Zum Inhalt: Es stellt sich immer die Frage, was würden Menscheneltern tun, was würden wir tun, wenn abzusehen ist, dass keine Rettung der Nestlinge/Kinder möglich ist, man sie nicht evakuieren kann, nicht forttragen, ob der Sturmgewalt nicht mehr beschützen kann.

Wenn wir ehrlich sind: Wir wissen es nicht. Wenn ich in den Nachrichten Bilder von brennenden Häusern sehe, frage ich mich immer, ob so ein fassungsloses Elternteil, das vor dem Brand steht und weiß, dass sein Kind nicht überlebt hat, damit weiterleben kann, wie es ist, damit weiterleben zu müssen.

Fakt ist aber, dass das Leben ringsum weitergeht. Alle fangen irgendwann wieder an zu lachen und zu singen, außer die betroffenen Eltern vielleicht und selbst denen würde ich gönnen, dass irgendwann der Schmerz nachlässt und dass das Leben, wenn auch ganz anders als vorher, vielleicht irgendwann wieder atembar wird.

Hier im Text wird offen gelassen, ob es die Kinder der singenden Amsel waren oder nicht, die Auslegung bleibt jedem Leser selbst überlassen. Ich weiß allerdings, dass auch Vögeln das Singen aus dem einen oder anderen Grund temporär vergehen kann. Und falls es nicht die Amselmutter ist:

Es ist erschreckend und macht ein schlechtes Gewissen, aber Begräbnisse führen dazu, dass - vielleicht nicht gerade den Eltern oder den engsten Familienmitgliedern, aber doch den sonstigen Angehörigen und Anverwandten des Toten das Leben bewusster wird, dass man es mit anderen Augen betrachtet, ja, auch dazu, dass man mehr oder minder unterbewusst froh ist, selbst noch am Leben zu sein. Ich habe mal eine amerikanische Untersuchung gelesen, die besagte, dass erstaunlich viele Kinder an Beerdigungstagen gezeugt werden, vermutlich entweder, weil die Überlebenden sich/einander auch körperlich trösten wollten oder aber, weil das Leben selbst auf irgendeine Weise Ausgleich...

Liebe Grüße

Sabine
Marjanna (68) antwortete darauf am 11.03.18:
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 Irma schrieb daraufhin am 22.03.18:
Liebe Sabine, auch an dich ein herzliches Dankeschön für die intensive Beschäftigung mit meinem Gedicht sowie die ausführliche Ausführung deiner Gedanken dazu.

Die Ziegel möchte ich unverändert lassen, weil mir eine Wiederholung der Schindeln, so kurz nach dem Titel, nicht gefiele. Dachziegel passt metrisch nicht, zudem kommt das Dach noch in Vers drei. Ziegel ist für mich auch eine durchaus gebräuchliche Bezeichnung. Sowohl für Ziegelsteine als auch für Dachziegel(n). Der Duden meint hierzu:

Ziegel, der oder die

1. [roter bis bräunlicher] Baustein aus gebranntem Ton, Lehm
2. roter bis bräunlicher, flacher, mehr oder weniger stark gewellter Stein zum Dachdecken aus gebranntem Ton, Lehm; Dachziegel
Als Beispiel für 2. ist angeführt:

ein Dach mit Ziegeln decken
Bei uns nistet übrigens tatsächlich jedes Jahr ein Amselpaar hoch oben in der Regenrinne. Leider ist die Hausverwaltung nicht bereit, ein Schutzgitter auf der Regenrinne montieren zu lassen. Die Amseln haben sich eigentlich dort in zwanzig Meter Höhe einen sicheren Brutplatz gewählt: Kein Fuchs, keine Katze, aber auch kein Eichhörnchen kommt zum Nest. Nur bei sintflutartigen Regenfällen passiert eben das oben geschilderte. In einem Sommer habe ich auch tatsächlich ein Junges auf dem Erdboden am Fuße des Fallrohrs gefunden. Schon kurze Zeit später sah ich die Amseln schon wieder mit Nistmaterial zur Regenrinne fliegen. Sie brüten, wenn irgend möglich, noch ein weiteres Mal. Ob sie so etwas wie Trauer über den Verlust empfinden können, weiß ich bei Vögeln nicht. (Das mit der temporären Gesanglosigkeit ist interessant!) Viele Säugetiere können in jedem Fall trauern und tun es auch.

Die Übertragbarkeit auf den Menschen ist durchaus berechtigt, wie du gezeigt hast. Auch ich hatte beim Schreiben irgendwie an die Flüchtlingsboote denken müssen, die gekentert sind. An Familien, wo vielleicht die Erwachsenen gerettet wurden, aber ihre kleinen Kinder ertrunken sind. Auch sie haben Sicherheit für ihre Kinder angestrebt. Und sie dann nicht retten können. Was bleibt ihnen in der schönen neuen Welt? Sie müssen und werden weiterleben, möglicherweise weitere Kinder bekommen. Und uns, die wir Bilder davon im Fernsehen sehen, uns bleibt nur unser Mitgefühl und, wie du schreibst, eventuell als Folge auch das Glücksempfinden und Schätzenlernen unserer eigenen Familie.

@Marjolaine: Ja, wir vergessen oder verdrängen allzu gern die Vergänglichkeit. Aber je stärker wir sie vor Augen geführt bekommen, desto stärker erwacht in uns auch der Lebenswille. Uns bleibt neben dem Kampf im Leben nur der Kampf für das Leben. Und daran ist nichts Verwerfliches. Trauer um Verlorenes ist kein Widerspruch zum Wunsch, neues Leben zu erleben.

Ganz lieben Dank an euch beide! LG Irma

Antwort geändert am 22.03.2018 um 17:48 Uhr

 EkkehartMittelberg (11.03.18)
Hallo Irma,
neben der Vernichtung der jungen Brut sitzt die Amsel und singt ihr Lied. Die Natur ist erbarmungslos und schön zugleich. Man kann dein Gedicht symbolische sehen für das Fehlen eines übergeordneten Sinns im Leben. Aber es geht weiter, während gleichzeitig anderes Leben vergeht.
LG
Ekki

 AZU20 äußerte darauf am 11.03.18:
Da schließe ich mich an. LG

 Irma ergänzte dazu am 22.03.18:
Tja, Ekki, die Welt dreht sich ungerührt weiter, ganz gleich, was passiert. Die Vögel können ein Lied davon singen. So ist das Leben.

@Armin: Das freut mich!

Herzlichen Dank euch beiden, auch für die Empfehlung. Liebe Grüße, Irma
Aron Manfeld (48)
(22.03.18)
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 Irma meinte dazu am 22.03.18:
'Die Welt' kann damit vermutlich ebenso viel anfangen, wie ich mit deiner Kateransprache, lieber Aron. Und? Wen kümmert das?

Alka-Seltzer-reich-Grüße, Irma

Antwort geändert am 22.03.2018 um 19:19 Uhr
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