Ein Tabu

Kurzprosa zum Thema Gesellschaftskritik

von  Remy

Für die Gesellschaft bin ich zweiunddreißig Jahre alt. Ich selbst fühle mich zweiunddreißig Jahre jung. Die Gesellschaft ist wie eine Frau, die mich in einem Café antrifft und beobachtet, wie ich am Tisch mit einem jungen Mädchen sitze und mit ihr über Belanglosigkeiten lache. Sie ist siebzehn. Die Frau runzelt die Stirn, zieht ihre Augenbrauen hoch, sodass sie fast ihren Haaransatz berühren. Auch ihren Mund kneift sie fest zusammen, um nicht loszuschreien. Sie tut es nicht, weil es sich nicht gehört. Sie möchte sich nicht in der Öffentlichkeit blamieren, keine Szene machen, obwohl ihr die Szene nicht gefällt und sie sich als aufgeklärte Bürgerin verpflichtet fühlt, etwas zu sagen. Dann drängt sich der Gedanke auf, dass es sie nichts angehe, aber am Ende sagt sie: „Schämen sie sich!“ und geht.

Antonia und ich schauen wie sie das Café verlässt, ohne zurückzublicken, dabei hat sie ihren Coffee-2-Go auf dem Tresen vergessen. Ich bin ein wenig sprachlos und suche nach den richtigen Worten, bis Antonia mir zuvorkommt und sagt, „mach dir nichts draus, Elio, du hast nichts falsch gemacht, du bist ein guter Mann.“ Und als sie das Wort „Mann“ ausspricht, merke ich wieder, dass ich kein Junge mehr bin. In meinem bisherigen Leben fühlte ich mich nie wie ein "richtiger" Mann – und das sagt sie als Mädchen, und nicht als Frau. Ihre Wortwahl macht sie zur Erwachsenen. Ich fühle mich schlecht und niedergeschlagen und weiß nicht, ob ich ein schlechter Mensch bin, weil ich etwas für Antonia empfinde, und das bereits seit zwei Jahren, ein Mädchen und keine Frau.
Wir haben uns zufällig in einem Club kennengelernt. Ich wollte draußen eine Zigarette rauchen, während meine gleichaltrigen Freunde zu irgendwelchen 90er Songs abtanzten, die ich nicht mochte, als ich sie plötzlich neben mir fand. „Kriege ich ‚ne Kippe?“. Ich zückte schweigend eine Zigarette aus meiner Schachtel und öffnete meine geballte Faust über ihrer offenen Handfläche. Die Zigarette fiel lautlos in ihre Hand. Aus der Tasche ihrer Jeansjacke zog sie eine Schachtel, entnahm ein Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an. Ich sah, dass sie noch drei Zigaretten übrig hatte. In den darauffolgenden Minuten begann zunächst ein einfaches Gespräch, dann eines über innere Gefühle und Gedanken, die man nur berauscht einem Fremden erzählen kann, da man glaubt, der Fremde würde einen weniger verurteilen als ein guter Freund. Paradox, wenn man an die Frau denkt, wegen der ich mich schämen sollte. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden das Gespräch begonnen hat, ob ich nach diesem Gespräch gesucht habe oder ob sie es war, die mich in diesen berauschten Moment ergriff und in eine Welt zog, die sich mir erst danach im Laufe der Wochen und Monate eröffnete .

Es war der Sommer einer Jugendliebe – zwischen einem Mann und einem Mädchen. Mit vierzehn Jahren hatte ich damals meine erste Freundin gehabt, die ersten sexuellen Erfahrungen gemacht, ohne dabei mit ihr mein erstes Mal zu erleben, aber dennoch war es die Phase einer sexuellen Annäherung, in der man sich stundenlang küsste, nie genug bekam, man das erste Mal die Brüste und Vagina einer Frau berührte und stundenlang einen Harten hatte. Genau so fühle ich es auch heute und dieses Gefühl ist mein wertvollster Besitz. Nichts gefällt mir lieber als sie und das Gefühl, welches ich mit ihr verbinde und das auch uns verbindet. 

Antonia hat nie mein Alter erwähnt, ihr war es egal, es spielte nie eine Rolle für sie, während ich mir immer wieder Vorwürfe machte, sie geistig wie auch sexuell anziehend zu finden. Ich hatte wesentlich mehr Lebenserfahrung gesammelt, studiert und bereits gearbeitet, nun mache ich meinen Doktor. Es sorgte nie für Schwierigkeiten, es passierte sogar das Unerwartete. Sie interessierte sich für jedes Wort, das ich zu ihr sagte, für jede Geschichte und Anekdote, die ich ihr erzählte. Sie hörte mir zu, wie keine andere Frau es jemals getan hatte. Und nie kam es zu einer strittigen Diskussion, wir akzeptierten einander wie wir waren, denn wir wussten, dass sie einmal so werden würde, während ich einmal so gewesen war und das gleichsam bedeutet, dass wir einfach nur menschlich sind und Menschen einander lieben können – völlig egal, ob die Gesellschaft versucht  einander zu trennen. Was ist falsch daran, das zu tun, wonach man sich sehnt, wenn man dabei niemanden schadet? Und ist das, wonach wir uns sehnen, erst das, wofür es sich zu leben lohnt?

Antonia stand kurz vor ihrem Abitur. Sie würde es mit Bravour bestehen, die kostenpflichtige Nachhilfe konnte sie sich in den letzten zwei Jahren sparen, denn ich war für sie da, wenn sie mich brauchte. Das Einzige, was manchmal die Laune drückte, waren lediglich die Zweifel, die ich empfand, ob das alles richtig sei, obwohl ich wusste, dass sie die Richtige ist. Meinen Freunden habe ich damals zunächst meine Beziehung verschwiegen, irgendwann kam es dann raus, als man uns zusammen sah. Die Reaktionen waren unterschiedlich, aber allesamt negativ. Manche wollten gar nichts mehr mit mir zu tun haben, weil sie sagten, ich sei ekelhaft, ich sei pädophil, ich solle mich nicht an Schülern vergreifen, nicht an Kindern.  Zum Glück hatten es ein paar wenige Freunde akzeptiert, die sich aber noch immer unwohl fühlten, wenn Antonia und ich gemeinsam auf einer Party auftauchten, Küsse austauschten und dann wieder gemeinsam hinter den verschlossenen Türen abtauchten. Meine Eltern, die sehnsüchtig darauf warteten, dass ich eine Frau kennenlerne und Kinder in die Welt setze, die wissen bis heute natürlich nichts. Sie würden sich nicht wie die Frau zusammenreißen, die so eben das Café verlassen hat, sie würden ihren Ekel und ihre Wut rauslassen, rausschreien, gar rausprügeln. Ich wäre nicht mehr ihr Sohn. Sie würden sich für mich schämen.
Wenn ich manchmal mit ihr unterwegs bin, neue Leute kennenlerne, sind sie sehr verwundert, wenn sie von unserem Alter hören. Viele runzeln die Stirn und verhalten sich anschließend anders. Sie wirken distanzierter, bevor sie sich schließlich von uns abwenden. Ich frage mich aber warum. Wann ist der Mensch erwachsen? Mit siebzehn angeblich nicht. Paar Monate später aber schon? Aber der Altersunterschied spielt dann trotzdem noch eine Rolle? Und ab welchem Alter kann man für sich selbst die richtigen Entscheidungen treffen und seine Gefühle einordnen? Manche können das ihr ganzes Leben lang nicht.

Nach einer aktuellen Studie endet die Adoleszenz mit dem 24. Lebensjahr. Das bedeutet, dass meine Ex-Freundin und ich  während unseres Studiums noch immer nicht Erwachsen waren. Das klingt verrückt bei dem ganzen Alkohol, den wir tranken, bei den ganzen Reisen, die wir unternahmen, die ganzen finanziellen Probleme, die wir gemeinsam stemmten. Ihre Eltern waren zum Glück etwas Lockerer. Antonia ist auch noch in der Phase der Adoleszenz und ich habe nicht das Gefühl, mich seit dem 24. Lebensjahr noch grundlegend verändert zu haben. Das Einzige, was sich verändert hat, ist die steigende Frustration und die Verzweiflung, immer älter zu werden, während die Frauen, die mich wirklich reizen, nicht älter werden.  Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich mich meistens nicht zu den Frauen in meinem Alter hingezogen fühle.
Kurz bevor ich Antonia kennengelernt habe, beendete ich eine Beziehung zu einer fünf Jahre älteren Frau. Es war eine typisch erwachsene Beziehung, die kurz vor einer Ehe stand, bevor ich doch erkannte, dass ich mich noch nicht binden will oder sie einfach nicht die Frau ist, mit der ich mich schließlich bis zum Lebensende binden möchte. Und wenn man meint, es würde eh nicht bis zum Tod halten, warum sollte man dann überhaupt heiraten, wenn es auch andere Möglichkeiten wie die eingetragene Partnerschaft gibt, die den meisten Frauen aber nicht genügt. Sie wollen mehr, sie wollen alles. Sie verlor auch mit ihrem Alter ihre jugendliche Anmut, die sie so reizend erscheinen ließ und hatte Mühe, überhaupt noch etwas Junges beizubehalten. Sie war viel zu sehr auf ihre Karriere fixiert. Und gerade hier sehe ich, dass die Generationen nach mir vieles anders empfinden und mir dieses Empfinden mehr entspricht als das meiner Generation. Bin ich also zwischen den Generationen verloren? Wenn man Jahrzehnte zurückblickt, merkt man, dass jede Generation ihre eigene Form der gesellschaftlich akzeptierten Liebe empfand. Die Hippies und 68er hatten keine Probleme mit Nacktheit und freier Liebe, während sich dies später wieder legte. Sogar im alten Rom und in der Antike war die homosexuelle Liebe teilweise von der Gesellschaft toleriert, bis sie schließlich wieder tabuisiert wurde. Zum Glück war es immer ein hin und her und nie etwas Unantastbares. Heute steigt die Anzahl der Staaten, in denen es immerhin gesetzlich erlaubt ist, auch wenn nicht die gesamte Bevölkerung dahintersteht. Und wie ist es hier?

„Autsch!“, schreie ich, als mir Antonia gegen das Schienbein tritt. „Du bist wieder ganz woanders!“, sagt sie mit lachendem Mund und ernsten Augen. „Ja, du hast recht, aber eigentlich will ich nur bei dir sein!“ Sie ahmt Würgegeräusche nach und fängt anschließend lautstark an zu lachen. „Du bist so kitschig! Komm, wir gehen ins Kino und schauen eine Komödie, das bringt dich wieder auf andere Gedanken – auch näher zu mir.“ Und so gehen wir ins Kino, an den einzigen öffentlichen Ort, an dem man uns während des Films keine Beachtung schenkt und wir einfach wir sein können.

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Kommentare zu diesem Text

Tilda (50)
(15.03.18)
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 Remy meinte dazu am 16.03.18:
Dankeschön für den herzlich interessanten Kommentar und für das Lesen. Hat mich sehr gefreut!
matwildast (37)
(15.03.18)
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 Remy antwortete darauf am 16.03.18:
Danke für das Lesen und Kommentieren!
Zum ersten Absatz: Ja, ich habe es bewusst konzipiert. Ich glaube, mehr will zu diesem Aspekt gar nicht sagen, außer es kommt eine weitere explizite Frage dazu.

Zum zweiten Absatz: Es ist auch bewusst konzipiert, dass es sich ausschließlich um den Ich-Erzähler "Elio" dreht, da ich seine Gedanken und seine Verzweiflung in den Vordergrund setzen wollte. Deine berechtigte Kritik hat mir aber Lust und Laune gemacht, den Text nicht zu überarbeiten, aber vielleicht einen weiteren zu diesem Thema zu schreiben, vielleicht mit den selben Protagonisten und auf andere Aspekte einzugehen, insbesondere auch auf ihre Perspektive und Geschichte.

"Du verpasst die Chance den Leser zu verführen und in die Kontroverse hineinzuziehen, wie etwa in "Unsichtbar" von Paul Auster oder wie Houllebecq es zu tun pflegt. Hier bleibt das Thema eine theoretische Abhandlung, beleuchtet aber keine interessanten neuen Perspektiven, sondern bleibt bekannten Klischees verhaftet."
Welche Klischees?
Bei den Perspektiven stimme ich dir zu, habe ich mir aber für den nächsten Text zu Herzen genommen.

Danke für die konstruktive Kritik! Sie hat mir sehr viel gebracht!
Den Viagra-Satz entferne ich, er ist auch ein Überbleibsel der Rohfassung, bei dem es in diesem Zusammenhang ein weiteren Kontext gab.

merci.

R.
matwildast (37) schrieb daraufhin am 16.03.18:
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 Isensee (16.03.18)
Herrlichst erzählt. Den Einstieg mit der Empörten die ihren Kaffee zum mitnehmen vergisst, ist für mich schwierig.
Mein Konflikt liegt im Grunde darin, dass es tatsächlich Menschen gibt, die so reagieren, welche aber ihren Kaffee nicht vergessen. Doch Leute die ihren Kaffee vergessen, verlassen meistens schweigend ein Restaurant oder Imbisslokal.
(Persönlicher Geschmack)
Besonders gefiel mir, dass es in einem Kino endet.
Ein wirklich Toller Ort um die Geschichte zu beenden.
Liebe passiert.
Hat Spaß gemacht es zu lesen.

 Remy äußerte darauf am 16.03.18:
Ihr erster Punkt ist amüsant. Beziehen wir uns auf das "meistens", welches nicht "immer" bedeutet und ich bereits zweimal in meinem Leben eben genau wie geschildert erlebt habe. Das sind die 10%, haha.

Dankeschön für das Kino-Kompliment. Und herzlichen Dank für das Lesen und Feedbacken!

Antwort geändert am 16.03.2018 um 09:59 Uhr
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