Introspektion

Tagebuch zum Thema Selbsthass/verletzung/mord

von  keinB

Sie betrachtet seit Stunden ihre Hände, die flach nebeneinander auf dem Tisch liegen. Die langen, schmalen Finger. Die Fingernägel, unterschiedlich lang, abgebrochen, nicht abgekaut. Ein schwacher Trost, immerhin. Die Zeigefinger sind beide krumm, der linke war irgendwann mal gebrochen, der rechte durch falsche Stifthaltung verzogen. Der Blick wandert. Die vielen Narben, deren Ursprung sie nur noch teilweise benennen kann. Die graden sind freilich einfach. Das feine Geflecht der Blutgefäße, das sich erstaunlicherweise gut sichtbar über ihre Unterarme weiterzieht. Die unzähligen, sich doppelt und dreifach überlagernden Narben dort. Sie richtet den Blick wieder auf die Hände. Sie werden alt. Man sieht, dass die Haut trockener wird, einige Altersflecken hat sie auch schon entdeckt. Mit einem der krummen Zeigefinger zieht sie die blauen Adern der anderen Hand nach, übers Handgelenk, das stärkere. Vor einigen Jahren hatte sie eine undefinierbare Entzündung im anderen, mit Krankenhausaufenthalt, intravenösen Antibiosen ohne Ende, Hunderten von Tests, astronomisch hohen Entzündungswerten und einem empathielos-lapidaren „vielleicht müssen wir die Hand abnehmen“. Trotz anschließender Aufbaumaßnahmen ist das Handgelenk schmaler und vor allem: schwächer geblieben. Wenigstens fühlt es sich meistens nicht mehr beeinträchtigt an.
Die Fingerkuppe verweilt an den verblassenden Bissspuren. Keine Ahnung, von wann die sind. Von vor zwei oder drei Tagen, vermutet sie, der Farbe des Blutergusses nach zu schließen. Das Beißen passiert unterbewusst, so wie früher das Nägelkauen. ‚Besser als Schneiden‘, sagt sie sich, und korrigiert sich direkt wieder: ‚Nein, es ist beides scheiße.‘
Sie zwingt sich, nicht länger auf dem Bluterguss herumzudrücken, legt die Hände wieder flach nebeneinander auf den Tisch. Sie mustert die Narben, eine nach der anderen, wieder und wieder. Die Zeit vergeht immer trotzdem, denkt sie und fragt in den Raum:
„Wann ist das bloß passiert?“

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Kommentare zu diesem Text

Marjanna (68)
(13.04.18)
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 keinB meinte dazu am 14.04.18:
Dankeschön. :)

 drmdswrt (14.04.18)
Erfühlbarer Text. Erfreulicherweise projizierbar auf Eigenes.

Feiner Schluss, der nachhallt:
Die Zeit vergeht immer trotzdem, denkt sie und fragt in den Raum:
„Wann ist das bloß passiert?“


Die Zeit vergeht immer trotzdem.

 keinB antwortete darauf am 20.04.18:
Ja. Die Zeit ist nämlich doof.
Kennste  das noch?

Danke. :)
ues (34)
(14.04.18)
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 keinB schrieb daraufhin am 20.04.18:
Dankeschön :)
_fox_ (30)
(14.04.18)
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 keinB äußerte darauf am 20.04.18:
Freut mich, danke. :)
RedBalloon (58)
(15.04.18)
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 keinB ergänzte dazu am 20.04.18:
Danke. :)
Deek (43) meinte dazu am 14.05.18:
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 keinB meinte dazu am 14.05.18:
Danke. :)
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