Steine

Erzählung zum Thema Alter

von  Carlito

Die Kinder hatten den alten, alten Mann schon oft gesehen. Er ging regelmäßig durch den Park spazieren. Ihr Spielplatz lag am Rande dieses Parks. Sie blickten ihm manchmal nach. Gelegentlich hielt er bei seinem Spaziergang inne und schaute auf den Weg. Dann bückte er sich und ganz, ganz langsam, so wie es alte Leute eben tun, hob er etwas auf und steckte es in seine Manteltasche.
"Was hebt der da bloß immer auf?", fragte sich das erste Kind.
"Vielleicht sammelt er Zigarettenkippen", vermutete das zweite Kind.
"Vielleicht sammelt er Schnecken oder Würmer oder Käfer“, rätselte das dritte Kind.
Sie sahen dem alten Mann nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann wandten sie sich wieder wichtigeren Dingen zu – ihrem Spiel im Sandkasten. Monster mussten bekämpft und Abenteuer bestanden werden – da blieb kein Platz für einen alten, alten Mann.
Tage, Wochen, Monate vergingen. Die Kinder sahen dem alten, alten Mann nach, beobachteten ihn, wie er etwas aufhob und dann lächelnd in seine Manteltasche steckte, wie er sich danach mühsam wieder aufrichtete und dann weiterging.
So ging es Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Sonne folgte auf Regen, Regen auf Sonne. Wolken zogen vorbei und machten dem Blau des Himmels Platz, bis dieses wieder von den Wolken verschluckt wurde. Manchmal stritten sich die Kinder, manchmal lachten sie gemeinsam. Der Lauf der Welt schien unverrückbar.
Eines Tages sagte eines der Kinder, als der alte Mann wieder an ihnen vorbeischlurfte:
"Ich frag ihn mal".
Das Kind wollte losgehen, doch die beiden anderen Kinder hielten es zurück.
"Nicht. Vielleicht ist das ein Perverser“, sagte das zweite Kind.
"Was ist ein Perverser?", fragte das erste Kind.
"Das ist einer, der schlimme Dinge tut. Hab' ich im Fernsehen gesehen", sagte das zweite Kind. Es wusste eigentlich nicht genau, was ein Perverser war, aber es wusste, dass man sich von Ihnen fernhalten musste – das hatte auch Mutti gesagt. Das dritte Kind dachte an die dicken Männer in feinen Anzügen, die alles bestimmten, aber vielleicht verwechselte es auch etwas.
"So ein Quatsch," sagte das erste Kind bestimmt, „Perverse kommen sofort ins Gefängnis," und stapfte entschlossen los. Die beiden anderen Kinder zögerten zuerst, aber folgte dann dem ersten Kind in einigem Abstand.
Als das erste Kind den alten, alten Mann fast erreicht hatte, blieb es stehen. Der alte Mann bückte sich langsam, ganz langsam und hob einen Stein auf. Nur einen Stein. Sonst nichts. Nur einen Stein. Er drehte den Stein und betrachtete ihn bedächtig von allen Seiten. Dann lächelte er und steckte den Stein in die Tasche seines alten, alten abgetragenen Mantels.
Das erste Kind betrachtete den alten, alten Mann, zögerte einen Augenblick, dann fasste es sich ein Herz und sprach den alten Mann an.
"Sammelst du Steine?" fragte das erste Kind.
Der alte, alte Mann hob überrascht seinen Kopf und blickte das erste Kind an.
"Ja", sagte er lächelnd.
"Warum?" fragte das erste Kind.
Der alte, alte Mann hielt einen Augenblick inne, dann antwortete er:
"Sie haben sonst niemanden außer mir.“
Er lächelte das erste Kind an, dann wandte er sich ab und ging langsam weiter.

Irgendwann fiel den Kindern auf, dass der alte Mann nicht mehr im Park erschien. Sie erzählten es den Erwachsenen.

Die Polizei brach die Wohnung des alten, alten Mannes auf. Er lag in seinem Bett. Er war gestorben. In seiner Wohnung fand man tausende, tausende von Steinen – alle sorgfältig gereinigt und in Schränken, Kartons oder Vitrinen verstaut. Seit seine geliebte, geliebte Frau vor vielen, vielen Jahren gestorben war, hatte der alte, alte Mann allein gelebt.


Anmerkung von Carlito:

Reflektion zum Thema Einsamkeit im Alter.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (18.06.18)
Guten Morgen.

Der Text könnte gut bei "...langsam weiter" enden, der Rest macht sehr den Einruck, da noch ein Art Pointe aufzusetzen, wirkt aber extrem bemüht. Ansonsten gerne gelesen.

P.S.: fern halten - > fernhalten

 Carlito meinte dazu am 18.06.18:
Vielen Dank für deinen Kommentar und deine Hinweise. Stimmt, der Schluss wirkt überzogen. Ich lasse ihn aber trotzdem stehen, sicherlich können auch andere daraus lernen.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 16.01.20:
Was denn lernen??? Dass man keine bemühten Pointen aufsetzt? Na gut, da hast Du recht ...

 Carlito schrieb daraufhin am 16.01.20:
Nach anderthalb Jahren noch gefunden …

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 17.01.20:
Ja, ich bin ein Fuchs!
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram