Das Paradies?

Essay zum Thema Heimat

von  shinai

Aufblende. Der Blick aus einem Zugfenster, vorbei gleitet eine pitoreske Seenlandschaft, malerisch platzierte Kühe dekorieren die Wiesen und in den Kommentaren unter dem Video liest man vom Paradies.

Die Schweiz.

Der Garten Eden, das verheissene Land und zumindest meinem Pass zufolge, meine Heimat.
Die Schweiz ist schön, keine Frage. Ich vergesse das manchmal, weil man sich am Schönen auch satt sehen kann. Doch die Begeisterung geht weiter, auch gesellschaftlich finden Zugezogene und Touristen die Schweiz paradiesisch. Zurecht? Denn: Wo ein Paradies, da auch eine Schlange.

Zu allererst: Sauberkeit. Man stolpert über die Grenze in die Schweiz hinein und kommt ganz aus dem Tritt, weil man keinen Müllbergen mehr ausweichen muss. Ganz so schlimm ist es natürlich nicht. Man besehe sich nur einmal das Rheinufer in Basel am Sonntagmorgen. Da liegt neben Müll und Unrat noch so manch liegengebliebener Bürger. Aber ja: Sauberkeit ist wichtig, beinahe Identitätsstiftend.

Die Innenstadt am Donnerstagmorgen nach der Fasnacht? Wie geleckt. Und so muss das auch sein. Etwas Anderes würde nur zu bösen Baz-Kommentaren führen.

Aber: Wie ein Freund aus Mexiko mir einmal sagte: Man hat fast Angst, den Boden durch die eigene Anwesenheit zu verschmutzen. Er fand diesen Hang zur Sauberkeit ungemütlich, beinah wie das Leben in einem amerikanischen Film aus den 50ern. Leblos und fade. Er nannte es nicht gerade steril – immerhin beweist Singapur, dass Sauberkeit noch weitaus krasser betrieben werden kann. Aber der Vorwurf schimmerte durch: Ihr versteht nicht zu leben, ihr seid ja nur am Aufwischen. Und: So richtig willkommen fühlt man sich doch erst, wenn der Gastgeber die Wohnung nicht aufgeräumt hat, weil er weiss, dass der Besuch sich auch so wohl fühlt.

Meinem Freund aus Japan gefällt die Sauberkeit – oder besser: Sie ist ihm nie aufgefallen. Er findet unsere Höflichkeit, unseren Anstand viel wichtiger – einfach fantastisch. Gar nicht wie die Deutschen, die ihn seiner Beschreibung nach aus Berlin geschrien haben. Unsere nonverbale Kommunikation, dieses wortlose Verstehen des Gegenübers, entspricht seinem Ideal eher. Besser nichts sagen als die Harmonie stören.

Mein Berliner Bekannter hält uns allesamt für Lügner. Schweizer meinten nie, was sie sagten. Immer müsse er interpretieren und rätseln und das sei blosse Absicht, schliesslich seien wir ja auch alle Bankiers. Und was man von denen zu halten habe, wisse man ja.

Auch die deutschen Pfleger und Ärzte in unserem Krankenhaus stehen manchmal ratlos dem schweizerisch höflichen Schweigen gegenüber. Sicher, wir klopfen sie mit Höflichkeit mürbe, wenn man uns Zeit lässt, und manche finden das toll. Aber kaum einer schätzt die Missverständnisse, welche durch diese missverständliche Kommunikation entstehen können. Manchmal ist ein wenig Unhöflichkeit recht nützlich.

Aber seien wir ehrlich: Was den meisten Menschen zur Schweiz einfällt, haben sie einmal Käse, Kühe, Schokolade, Uhren, Alpen, Geld und Banken hinter sich gelassen, ist die Sicherheit. Kaum Morde, man kann sich unbewaffnet auf die Strasse wagen, selbst in den Städten.

Wenn ich meine Stelle verliere, greift die Arbeitslosenversicherung; verlier ich einen Arm, die Invalidenversicherung. Man ist solidarisch, man unterstützt einander. Hier muss keiner auf der Strasse leben, keiner ständig um sein Leben bangen oder fürchten, von der Polizei in eine dunkle Ecke gezerrt zu werden – zum peinlichen Verhör.
Unsere Autos werden jedes Jahr überprüft, die Strassen instand gehalten, die Restaurants getestet, die Schulen reformiert, die Daten katalogisiert, der Bürger fichiert – wir sind so sicher, dass wir es kaum fassen können, wenn mal etwas passiert.

Für jemanden, der, sagen wir mal, in Ecuador lebt, und sich kaum aus dem Haus traut, weil die Drogengangs das Quartier terrorisieren, ist es kaum vorstellbar, dass man zu viel Sicherheit haben kann. Wie kann man unglücklich sein, wenn man alles hat? Wenn das Verhungern ausgeschlossen ist? Wenn alle grundlegenden Bedürfnisse gedeckt sind?

Die Antwort darauf ist: Gerade weil alles gegeben ist, weil man so sicher ist. Man krankt sozusagen an Sicherheit. Ich gehe zur Schule, ich mache meinen Abschluss, ich leiste meinen Beitrag, ich erfülle die Norm, mir kann nichts passieren – und dennoch bin ich nicht glücklich. Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Denn Sicherheit macht doch glücklich.

Also erfindet man Probleme: Eifersucht, Neid, Ehrgeiz, besser sein als der Andere, mehr haben, mehr können und wenn das noch nicht glücklich macht, mehr desselben. Irgendwann muss es doch gelingen. Wir mögen vor den Gewalttaten anderer sicher sein, aber unsere Selbstmordraten zeigen, dass wir uns selbst im Auge behalten müssen.
Ist das jetzt die Schweiz? Ein Pro und Kontra, bei dem am Ende die Summe entscheidet, ob wir im Paradies sitzen oder im Würgegriff der Schlange langsam ersticken?

Weder noch. Die Schweiz ist das, was wir in ihr sehen. Und das Leben in ihr, was wir daraus machen. Und eine Heimat? Können diese Berge und Seen, die Höflichkeit, die Schokolade und die Kühe ein Hafen für die ruhelose Seele sein?

Mit Sicherheit. Bloss: Heimat, das ist kein realer Ort. Heimat ist die Summe von Erinnerungen, Gerüchen, Eindrücken, von verklärten Sommern und verschneiten Dächern, der Nachklang einer Melodie oder eines gemütlichen Abends mit Freunden. Heimat ist im Kopf. Und ich bin nicht sicher, ob an meiner Heimat «Schweiz» dransteht.

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (14.11.18)
Hat mir Freude bereitet, diesen Text zu lesen, möchte nur ergänzen, daß Heimat außer im Kopf auch ein wenig im Herzen ist, odrrr?

 shinai meinte dazu am 15.11.18:
Hallo LotharAtzert

Du hast natürlich recht: Heimat ist vor allem mit dem Gefühl verbunden. Ich glaube, ich habe in erster Linie an das Konzept gedacht, dass ich im Kopf habe - das nicht unbedingt deckungsgleich ist mit der Heimat im Herz.

Über Gefühle zu schreiben fällt mir schwer - sie lassen sich nicht so leicht erklären oder beschreiben wie Konzepte und Gedanken; und sie sind wandelbar, immer veränderlich. Es ist beinahe wie mit der Religion und dem Glauben. Über Religion lässt sich streiten, aber über den Glauben? Diese emotionale Bindung zu einem oder mehreren Göttern? Da bin ich mir nicht sicher.

Jedenfalls danke für Deinen Denkanstoss!

Lieber Gruss

shinai

 Dieter_Rotmund (14.11.18)
Guten Tag.

Hat gute Stellen, aber auch einige Schlampigkeitsfehler, z.B.
" kelorieren", was auch kein Schweizerdeutsch zu sein scheint, das ergab meine Nachschlagerei.

Ich persönlich halte eigentlich viel davon, jeden Text (NICHT: jeden Kommentar), den man hier einstellt, technisch (RS-Überprüfung) und menschlich (durchlesen) vorab zu prüfen. Aber das machen hier leider so wenige, dass ich selbst davon korrumpiert wurde und hier so manches Mal meinen Kolumnentext einfach so reingerotzt habe. Nun, ja.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 15.11.18:
Zurecht -> Zu recht

Sauberkeit ist und wichtig, beinahe Identitätsstiftend.
Für den Leser praktisch nicht zu dechiffreren, ich kann nur raten:

"Sauberkeit ist - wichtig! - beinahe Identitätsstiftend."

Besser wäre aber ein klares und verständliches

"Sauberkeit ist wichtig und Identitätsstiftend."

 shinai schrieb daraufhin am 15.11.18:
Hallo Dieter_Rotmund

Danke für die Hinweise. Habe die Fehler korrigiert - die hatte ich glatt übersehen.

Lieber Gruss
shinai

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 02.03.20:
Habe vergessen: "identitätsstiftend" ist ein Adjektiv!

...das hätte Dir auch selbst auffallen müssen, auf den Satz hatte ich ja bereits hingewiesen.

Insgesamt weiterhin eine flott und unterhaltsam geschriebene Glosse, im Vergleich zu den Österreichern können die allermeisten Schweizer Hochdeutsch.

 Thomas-Wiefelhaus (05.04.21)
Vielleicht sollte ich auswandern?
Und dort im Alter als Alm-Öhi leben?
Schade, dass es zwischen die Bergen kein brausendes Meer gibt.
Da wärs Perfekt.

Kommentar geändert am 05.04.2021 um 16:09 Uhr
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