Zacharias

Kalendergeschichte zum Thema Außenseiter

von  LottaManguetti

Schon von weitem erkannte man ihn. Sein schlaksiger Gang, bei dem die Beine miteinander zu konkurrieren schienen, gehörte zu ihm wie die Laute, die er ausstieß. Mit unkontrollierten Bewegungen schleuderte er seinen verblichenen Stoffbeutel beim Laufen hin und her, als wolle er ihn gar nicht bei sich tragen.
"Dea Sepp, dea Sepp, deam sog i’s!“, brüllte er in kurzen Abständen die Straße hinunter, als hätte ihn soeben jemand geärgert. Manch einer machte sich einen Spaß daraus, ihn nachzuäffen. Dann schimpfte er noch ärger: „Holts Muel! I sogs deam Burgermeischter, deam Sepp sog i‘s!“ Und der Einkaufsbeutel wedelte noch ärger hin und her.
Der Bürgermeister schien ihm der einzige Wohlgesonnene im Ort, nachdem der die Familie einmal besucht hatte. Damals sollte sie in ein anderes Haus ziehen. Mutter weinte viel in der Zeit. Sepp versprach zu helfen. Zacharias verstand bis heute nicht, dass er in diesem Moment dem Vermieter gegenübergestanden hatte. Doch sie durften bleiben. Das vergaß er nie.
Jeder in der kleinen Stadt wusste, wenn man ihm begegnete, war Zacharias auf dem Weg, die tägliche Ration Bier für den Vater zu holen. Mindestens einmal am Tag lief er die Gasse hinunter - ein Spießrutenlauf für den jungen Mann.
Zacharias lebte mit seinen Eltern sehr zurückgezogen. Die Bewohner des Ortes mieden die Familie. Sie nannten seinen Vater hinter vorgehaltener Hand einen cholerischen Säufer, der seine Frau zum Putzen im Altenheim zwingen würde. Mit so einem Pack wolle man nichts zu tun haben!
Die beiden älteren Brüder waren früh fortgezogen. Zacharias blieb. Wo sollte er auch hin?
Freunde hatte er kaum, außer Knut. Der Sohn des Nachbarn war im gleichen Alter wie er. Früher hatten sie manchmal miteinander auf dem Gehweg vorm Haus gespielt. Knuts Vater sah das nur ungern. Aber Zacharias’ Mutter überwand sich immer wieder, stand vor seiner Tür und bat Knut, mit Zacharias zu spielen.
Seit einigen Jahren lebte Knut in München. Seine Besuche daheim waren rar geworden. Es hieß, er studiere. Nur zu Geburtstagen oder Weihnachten grüßte eine Postkarte mit bunten Bildern, die Mutter vorlas. Ob Zacharias ihn noch kenne, fragte er dieses Jahr, und ob er ihn kurz besuchen dürfe? Die Mutter weinte vor Freude. Der Vater verzog keine Miene. Er hockte am Küchentisch, in der Hand eine halbvolle Bierflasche, den Blick in die Zeitung vertieft.
Ihr Jüngster berührte mit zitternden Fingern das Haar seiner Mutter. Warum weinte sie?
Knuts Vater stand breitbeinig mit leeren Blicken in der Tür, als sie später seinen Hof betraten.
„Am Erschten!“, herrschte er sie an.
Die Mutter nickte und schluckte vor Freude.
„I dank dir, Nochboar, füa doine Gunscht. Griaß dan Knut. Mir frein uns auf ian!“
Wortlos hob der Angesprochene die Hand und machte kehrt. Die Tür krachte ins Schloss. Das Hoflicht erlosch.
Am Heiligen Abend erschien Zacharias nervös. Dieses Kribbeln im Bauch war ihm unbekannt. Wie ein Gejagter lief er die Treppen des Hauses hinauf und hinunter, umkreiste den Küchentisch, schaute aus dem Fenster. Seine Mutter glaubte, es sei Vorfreude, Ungeduld.
„Morgen siast du 'n Knut wiader“, sagte sie. „I bin g'sponnt, wos aus iam g'worde is.“ Unterdessen zupfte sie den Hemdkragen ihres Sohnes zurecht. „Loas uns gahn. Wia sollten pünktlich san.“ Sie nahm seine Hand. „Oaber schau, dass d' net so laut bist.“
Der Vater nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Er lag auf dem Sofa und schwieg. Aus dem Fernseher drang feierliche Musik.
Zacharias störte den Gottesdienst nicht mit Rufen. Nur ein einziges Mal zuckte er zusammen. Kaum hatte die Mutter seine Hand genommen, beruhigte er sich. Heute waren ihm die gemeinen Blicke der Kirchgänger egal. Er genoss es, die Mutter singen zu hören, lauschte den Worten des Pfarrers, die würdevoll durch den Kirchenraum hallten. Weil er keine eigene Kerze halten durfte, half ihm die Mutter und legte seine Hand auf ihre. Das Licht war so friedlich! Im Widerschein ihrer Flamme funkelten seine Augen. Zacharias lächelte.
Beim Verlassen der Kirche gab der Pfarrer am Ausgang jedem die Hand.
Zacharias verstand nicht, was die Mutter mit diesem Mann redete. Er ging voraus. Es schneite. Schwere Wolken drückten auf die Gassen. Nur aus den Fenstern der Häuser drangen warme Lichter.
Ungelenk stolperte er über das Kopfsteinpflaster, schlitterte und schaute sich nach der Mutter um. Dichtes Schneetreiben versperrte ihm die Sicht. Wie die Mutter gestrahlt hatte in der Kirche! Er dachte an ihre helle Stimme und das Leuchten der Kerze, als sich ein Schatten von der Kirchenmauer löste.
„Dea Sepp!“, rief er, "Hoalts Muel, dea Sepp. Deam  Burgermeischter, deam sog i’s!“.
Nur einmal noch gellte sein Ruf durch die Gasse.
„Dea Sepp, deam sog i’s!“
Dann war es still.
In diesem Augenblick schüttelte der Herr Pfarrer ihre Hand.
„Oalles Guate, liabe Fra“. Mit der anderen Hand tätschelte er ihre Schulter. Zacharias Mutter  sah ihn mit festem Blick an. „I bloib stark“, flüsterte sie.
Die Kerzen in der Kirche waren noch nicht erloschen, als ein Schrei die Straßen erschütterte. Ein Schrei, den diese Stadt nie gehört hatte.
Zacharias lag in den Armen seiner weinenden Mutter. Warmes Blut quoll aus einer Wunde seines Hinterkopfes. Der frische Schnee färbte sich dunkelrot. Verwundert starrte er sie an. „Muatter“, flüsterte er und versuchte ihr die Tränen fortzuwischen. Blaulicht befreite die beiden von denen, die sie schweigend umringten.
Der Täter war rasch ermittelt: ein Drogenabhängiger aus München.
Knut. 
Ende Dezember beerdigte man das Opfer.
„Er hot doch niamandem woas g'toan!“, klagte eine Dame, die der Presse ein Statement gab. Sie nestelte nervös an ihrem Schal und entzündete eine Kerze am Tatort. Nachdem die Kameras fort waren, stand sie auf dem Vorplatz der Kirche und schwatzte dümmlich kichernd mit einer Bekannten.
In der Silvesternacht schien der Mond.
Am Neujahrsmorgen fand man Zacharias' Mutter. Sie war auf der Bank vor dem Grab erfroren.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Marjanna (68)
(31.01.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 LottaManguetti meinte dazu am 31.01.19:
Gern Janna.
Kalendergeschichte: Ich sammle Kurzgeschichten, um damit einen Kalender für Familienangehörige zusammenzustellen, quasi ein Geschenk zu Weihnachten, wenn mir nix anderes mehr einfällt.

Lieben Gruß
Lotta

 GastIltis (31.01.19)
Zu traurig, um etwas dazu zu schreiben. Gruß Gil.

 LottaManguetti antwortete darauf am 01.02.19:
Das sind doch nur Fingerübungen, Gil. Für mehr reichts das, was ich verbreche, ohnehin nicht. Aber es ist mir eine Freude, wenn ich damit Emotionen auslösen kann. Real gibt es diesen Zacharias (Lukas) zwar, aber als ich ihn das letzte Mal in einer fränkischen Kleinstadt sah, lebte er noch.
Seine Erscheinung animierte mich lediglich zu dieser Geschichte, die sich so abspielen könnte.
Mein Hauptaugenmerk lag allerdings nicht unbedingt auf dem Prot, sondern mehr auf seinem Umfeld. Das war das Eigentliche, was ich beschreiben wollte.
Vielleicht kommts ja ein bissl durch. Und wenn sich jeder mal an die eigene Nase fasst - noch besser.
Die Geschichte ist schon älter; ich habe sie allerdings stark überarbeitet und dachte, ich werfe sie nochmal unter euch.

Mit lieben Grüßen
Lotta

Antwort geändert am 01.02.2019 um 08:53 Uhr
Trainee (71)
(31.01.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 LottaManguetti schrieb daraufhin am 01.02.19:
Du hast es erkannt, H. Das Sachlich-Knappe ist von mir bewusst als solches formuliert. Ein weiterer Grund: Der Abstand zum Tod der beiden, der in den Kerzen am Ort des Geschehens nur übertüncht wird. Anteilnahme zeigen, umdrehen, tratschen und kichern.
Echte Anteilnahme gibt es nur zu Lebzeiten.

Das herauszuarbeiten war meine Intension. Vielleicht ist da noch mehr möglich.

Mit Dank und Gruß
Lotta

 Isaban (19.02.19)
Hallo Lotta,

Oberfranken, hm?

Deine Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut, bis auf den Schluss.

Das ist mir zu viel, zu dicht gedrängt, da reicht es nicht, wenn der Zacharias im Schnee ausrutscht, mit dem Kopf aufknallt und von der Mutter beweint am Tag größter Vorfreude an dieser Verletzung stirbt, da taucht hinterrücks der angekündigte Sandkastenfreund auf, den die böse Stadt drogenabhängig gemacht hat und obwohl er doch gewiss noch von früher gewusst haben muss, dass beim Zacharias nichts zu holen war, zieht er ihm drogenbeschaffungstechnisch mit Karacho eins über den Hinterschädel? Hmpf. Vielleicht bin ich ungerecht, aber das ist wirklich ein bisschen knüppeldicke, oder?

Du siehst, deine Story hat mich so sehr in den Bann gezogen, dass ich mich ereifere. Wenn eine Geschichte das schafft, ist sie gut, dann hat sie mich mitgerissen und erreicht, was eine Geschichte erreichen soll. Aber vielleicht kann man ja trotzdem noch einmal drüber nachdenken, ob da am Ende nicht ein wenig zu viel von allem gewollt, womöglich etwas zu viel aufgetragen wurde.

Liebe Grüße aus Unterfranken,
Isaban

 LottaManguetti äußerte darauf am 19.02.19:
Hi Isaban, gewiss, gewiss - ein bisschen dick aufgetragen. Aber ich habe ja auch keinen Zeitungsartikel der örtlichen Polizeidirektion verfasst.
:D
Meiner Meinung nach darf die Geschichte schon etwas dicker auftragen als die Realität, die dieses manchmal noch viel dicker schafft.
Allerdings ging es mir nur vordergründig um das Geschehen selbst. Und ob Ober-, Mittel-, Westmittel- oder Unterfranken: In unterschiedlichen Versionen solls das geben.
Im Ernst: Ich lese in deinem Kommentar ein wenig die Kritik, dass der Aufbau der Geschichte zum Ende hin vielleicht ein wenig zu gedrängt sein könnte?
Und da muss ich zugeben, ich habe gerade dort auf erzählende Momente verzichtet, um quasi mit Knall und Peng zu enden. Vielleicht ist das etwas übertrieben. Vielleicht hätte ich es leiser ausgehen lassen können, zarter, sanfter, mit weniger Tamtam. Und vielleicht wäre der ein oder andere auch drauf gekommen, was ich eigentlich bemängele?
Egal wie. Es passiert täglich mitten unter uns. Nicht immer hat es solch krasse Auswirkungen, aber wenn, dann schaut man doch mal hin.
Über Knut könnte man/ich sogar ne eigene Erzählung schreiben, auch über den Pfarrer, Zacharias Vater und Geschwister, die Menschen auf der Straße, die sich vor Lachen biegen, wenn Kinder dem Zacharias dessen Schimpftiraden entlocken usw.
Ich habe mich für obige Geschichte entschieden und gebe zu, sie hat ein aufmerksamkeitsfähiges Ende, ob echt oder im übertragenen Sinn.

Ich danke dir für deinen Kommentar und stecke ihn mir hinter die Ohren.

:-)

Lotta

Antwort geändert am 19.02.2019 um 13:55 Uhr

 Regina ergänzte dazu am 04.05.19:
In München steht ein Hofbräuhaus, oans, zwoa, gsuffa. Kein Oberfränkisch, die italienisch inspirierten Diphtonge sind typisch für bajuwarische Mundarten, von München bis Österreich, da wo einst die Römer hausten. Hier sind andere Elemente reingemischt, das solltest du von einem Bavarian native Speaker korrigieren lassen (i bin koane, my mothertongue is Middle Frankonian wie die Oma). Ihr Nordlichter habt det nich bejriffen, geht mir im Norden aber auch so: Niedersächsisch, NRW, McPomm, klingt meinen Ohren alles gleich.
Zum Inhalt: Drastisch. LG Gina
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram