Ich sehe etwas, was du nicht siehst!

Essay zum Thema Geister

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Daniel Everett war ein Amazonasmissionar, der sieben Jahre unter den Piraha - Indianern lebte. In dieser Zeit verlor er seinen Glauben und ist heute ein bekennender Atheist.
    Dies sei aber nur am Rande erwähnt. Mir geht es um eine Begebenheit, die er in seinem autobiografischen Buch über jene Zeit recht anschaulich geschildert hat:

Ich erwache aus tiefem Schlaf....,aufgeweckt durch den Lärm und die Rufe der Piraha. Ich setze mich auf und sehe mich um. Ungefähr sechs Meter von meinem Lager entfernt, auf der Uferböschung des Maici, hat sich eine Menschenmenge versammelt. Alle schreien und gestikulieren energisch. Sie schauen ans andere Ufer, auf eine Stelle gegenüber von meiner Hütte. Ich schlüpfe in meine Flipflops und trete vor die Türe …
  Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, dann frage ich meinen Sprachlehrer, was da los ist  „Siehst du ihn denn nicht da drüben?“, fragte er ungeduldig. „Xigagai, eines der Wesen, die über den Wolken wohnen. Er steht am Strand und schreit uns an, sagt uns, dass er uns töten wird, wenn wir in den Dschungel gehen.“
    „Wo?“, frage ich. „Ich kann ihn nicht sehen.“ „Na, genau da!“, gibt Kohoi gereizt zurück, und starrt auf die Mitte des offenkundig leeren Strandes. „Im Dschungel hinter dem Strand?“ „Nein! Da am Strand. Sieh doch!“, erwidert er empört. … immer noch blicken alle zum Strand hin. 1
Ganz offensichtlich nahmen hier die Indios etwas wahr, was Everett verborgen blieb: Ein übernatürliches Wesen, was sogar Sätze schrie!
    Warum Everett dieses Wesen nicht sehen und hören konnte, bleibt rätselhaft. Aber die Annahme, dass sich die Indios da kollektiv etwas eingebildet haben könnten, halte ich für ausgeschlossen. Offensichtlich geschah dies auch nicht zum ersten Mal, da sie ja genau wussten, um welchen Geist es sich da handelte, nämlich um einen namens Xigagai.

Eine ähnliche Geschichte einer anfänglich unterschiedlichen Wahrnehmung gibt es auch in der Bibel. Am Ende sahen dann beide - anders als im Falle von Everett - dasselbe:

Und der Diener des Mannes Gottes stand früh auf und trat heraus, und siehe, da lag ein Heer um die Stadt mit Rossen und Wagen. Da sprach sein Diener zu ihm: O weh, mein Herr! Was sollen wir nun tun? Er sprach: Fürchte dich nicht, denn derer sind mehr, die bei uns sind, als derer, die bei ihnen sind. Und Elisa betete und sprach: "HERR, öffne ihm die Augen, dass er sehe!" Da öffnete der HERR dem Diener die Augen und er sah, und siehe, da war der Berg voll feuriger Rosse und Wagen um Elisa her. 2
Fazit: Wenn zwei in diesselbe Richtung schauen, muss das nicht heißen, dass sie auch dasselbe sehen ... und vielleicht sieht der andere manchmal mehr als man selber!


Anmerkung von Bluebird:

1 "Das glücklichste Volk" , Everett S. 13-15
2  2.Könige 6

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Frühere bzw. ältere Kommentare zu diesem Text


 Augustus (02.02.19)
Die Texte werden immer ausgefeilter, die Fundstellten stets interessanter. Wer sich derlei Mühe macht, immer von neuem altes zum Vorschein kommen zu lassen, soll nicht ungehört bleiben

 Bluebird meinte dazu am 02.02.19:
Interessanter Kommentar ... ich nehme es mal als ein Lob

 Graeculus (03.08.21)
Da wird dir das folgende Zitat des bekannten Ethnologen Hans Peter Duerr gefallen:
Mir wurde eines Tages klar, daß die Wissenschaft im grauen Flanell nur eine unter vielen Möglichkeiten ist, die Welt zu sehen, zu fühlen und zu beschreiben. „Und wär’ das Aug’ nicht sonnenhaft, wie könnt’s die Sonne je erfassen?“ In anderen Worten: wie kann der Mann im grauen Flanell den Wilden verstehen, wenn der ihm erzählt, daß er die letzte Nacht in den Luftwurzeln des Weltenbaums von einem Succubus gemolken wurde, was wird er sehen, wenn die Nymphen im Schilf ihr Haar kämmen? Er wird bestenfalls Rohrdommeln sehen, nicht Nymphen. [...]
(Hans Peter Duerr: Satyricon. Essays und Interviews. Frankfurt/Main 1985, S. 32)

Der Haken an der Sache - von deinem Standpunkt aus, nicht von demjenigen Duerrs -: Es gibt das gar nicht, die eine richtige Beschreibung und Deutung der Welt.
So lande ich wieder bei der Vielfalt, nicht beim einzig richtigen Glauben.

Kommentar geändert am 03.08.2021 um 23:21 Uhr
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