Der beschlagene Spiegel

Kurzgeschichte zum Thema Eitelkeit

von  EkkehartMittelberg

Der alte Meister schenkte seinem Lieblingsschüler einen Spiegel. Der junge Mann wollte sogleich hineinsehen. Doch der Lehrer stoppte ihn: “Warte, bis du das Geheimnis dieses Spiegels kennst. Wenn ein eitler Mensch hineinschaut, beschlägt er, sodass man nichts sehen kann.“ Der Schüler fand die Worte des Meisters alsbald bestätigt. Dennoch versuchte er es jeden Tag aufs Neue, immer mit demselben frustrierenden Ergebnis.
Obwohl er sich schämte, fragte er seinen Mentor um Rat. Dieser empfahl ihm, den Spiegel einem guten Freund zu geben, der bereit sei, seinen Lebenswandel mit Kritik zu begleiten. Der Lehrer sagte noch: „Du wirst bald diesen kritischen Freund verlassen wollen. Aber halte an ihm fest, so lästig er dir auch sein wird.“ „Und was hat das mit dem Spiegel zu tun?“ fragte der Schüler. Der Meister antwortete: „Eines Tages wird dein Freund ihn dir vorhalten und er wird vielleicht nicht beschlagen.“

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Kommentare zu diesem Text


 Whanky931 (05.02.19)
Eine wundervoll erzählte Geschichte hinter einer Phrase.
Anregend!
Grüße

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.19:
Merci, Whanky, ich vermute, du meinst mit Phrase die Redensart, dass der Spiegel beschlägt.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (05.02.19)
Schön.
Das ist eine jener Geschichten, die zwar nichts Neues zum Inhalt haben, aber gerade wegen dem Inhalt immer wieder erzählt werden müssen. Und die E.M.-Variante lass ich mir doch immer wieder gerne gefallen.

TB

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 05.02.19:
Danke Trekan. Ich habe gerade mal gegoogelt. Das Motiv des Spiegels ist natürlich literarisch viel bearbeitet worden. Aber meine Geschichte vom beschlagenen Spiegel als Indikator für Eitelkeit hat keinen Vorläufer. Ich freue mich, dass sie dir gefallen hat.
Nimbus† (45)
(05.02.19)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 05.02.19:
Grazie, Heike. Du wirfst die interessante Frage auf, ob Eitelkeit bzw. Narzissmus heilbar sind. Ich bin kein Psychotherapeut, vermute aber, dass Eitelkeit therapierbar ist, Narzissmus jedoch nicht.
Mir scheint, dass dein Begriff von Charakter etwas zu positiv besetzt ist. Vielleicht kennst du die Handlung von Schillers "Die Räuber". Franz und Karl Moor sind beide Charaktere. Obwohl Franz ein Egomane ist, ist er dennoch ein Charakter. Spiegelberg, von Schiller als Kanaille bezeichnet, ist es jedoch nicht. Ihm fehlt das Format, ein faszinierender Schurke zu sein.
Herzliche Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (05.02.19)
Hoffentlich hat er dann auch so einen Freund.
Gut erzählt, Ekki!
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 05.02.19:
Hallo Didi, meine Lebenserfahrung ist, dass es gar nicht so schwierig ist, einen kritischen Freund zu finden, aber an ihm festzuhalten schon. Solche Freunde sind unbequem.
Danke und liebe Grüße
Ekki
Sätzer (77)
(05.02.19)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 05.02.19:
Merci, Uwe, es freut mich, dass ich die Geschichte nicht zu umständlich erzählt habe.
LG
Ekki
aliceandthebutterfly (36)
(05.02.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.19:
Vielen Dank, Stefanie, ob Vater oder Freund, ich denke, jeder braucht im Leben ein liebevoll kritisches Regulativ.
LG
Ekki

 Dieter_Rotmund (05.02.19)
Ich finde die letzten beiden Sätze überflüssig. Wir Leser sind nicht doof!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.19:
Hallo Dieter, ich halte meine Leser nicht für doof, aber für charmant.. Das Gelingen des Experiments mit dem kritischen Freund ist kein festes Versprechen des Meisters. Das geben die beiden letzten Sätze dem Schüler zu bedenken.

 TassoTuwas (05.02.19)
Hallo Ekki,
ich denke uneitle Menschen sind eine Minderheit. Es gibt also die "normal" Eitlen (ich zähle uns beide mal dazu )und die "übertrieben" Eitlen. Letztere geben uns Anlass zu Spott und sind auch nicht therapierbar.
Dein Text lässt darüber nachdenken!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.19:
Merci, Tasso, deine Deutung ist in meinem Sinne. Wenn wir frei von "normaler" Eitelkeit wären, ginge die Geschichte uns gar nichts an.

Herzliche Grüße
Ekki

 GastIltis (05.02.19)
Hallo Ekki, was sagt mir dein Text? Es kommt gar nicht auf den Spiegel an. Nur auf den Menschen. Der Mensch sieht sich sowieso anders, als der Spiegel ihn zeigt. Der Optimist sieht sich strahlend, der Pessimist als Griesgram. Geht das Spiegelglas entzwei, sagt der erste: jetzt muss es eine Weile so gehen, der zweite: es ist alles verloren.
Kann eigentlich der Spiegel der Seele beschlagen? Vielleicht. Wenn man eitel ist. LG von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.19:
Merci, Gil. in der Wirklichkeit kann der Spiegel der Seele wohl nicht beschlagen. Aber meine Geschichte ist ja nur ein Gleichnis.
LG
Ekki

 Lala (05.02.19)
Wo kein Korken drauf ist, muss man ihn auch nicht ziehen.

Prost.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.19:
Du hättest dir sowieso einen abgebrochen.

 Lala meinte dazu am 06.02.19:
Die einen sagen so, die anderen so. Mal gewinnt man, mal verliert man und es kommt wie es kommt.

 Lala meinte dazu am 06.02.19:
Hattest Du was gesagt?

Nein?

Hätte schwören können. Eben, als ich mit dem Notebook und kV im Bad war, eigentlich gar nicht in den Spiegel schauen wollte, da hätte ich schwören mögen, als ich am Spiegelschrank vorbeischluffte und einfach so, unwillkürlich wie ruckartig zum Spiegel schaute, dass ich für eine Millisekunde nicht nur Dich, statt mich im Spiegel sah, sondern Du mir obendrein noch Deine rote Krawatte zeigtest. Es war nur ein Lidschlag.

Entschuldige. Muss mich getäuscht haben.




aberichwürdschwören

Antwort geändert am 06.02.2019 um 20:12 Uhr

 susidie (05.02.19)
Wer hat die Arroganz den Spiegel zu setzen und wer hat die Größe sich in ihm zu sehen? Werfe nie den ersten Stein.....Sehr gut zum Thema Eitelkeit....wobei ich hier gerne auch noch tiefer gehe. Ganz liebe Grüße , Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.19:
Merci, Su. Ja, auch im Glashaus kann man sich spiegeln.
Liebe Grüße
Ekki
Trainee (71)
(06.02.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.19:
Liebe Heidrun, wenn es bei mehreren so rüber kommt, wie du es schreibst, freut mich das sehr.
Herzliche Grüße
Ekki

 Irma (06.02.19)
Man kann einem anderen auch einen Spiegel vorhalten um zu kontrollieren, ob er denn noch lebt. Ich hoffe, dass der Protagonist am Ende nicht sein Leben ausgehaucht hat. LG Irma

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.19:
hahaha, der ist gut, Irma spassibo. Man muss manchmal sehr lange warten, bis sich einer verändert. :)
LG
Ekki

 Dieter Wal (07.02.19)
Schnörkellos-schöner Text.

 Dieter Wal meinte dazu am 07.02.19:
Seit meinem obigen Kommentar quälte mich eine sich steigernde depressive Verstimmung. Anfangs nahm ich keine Notiz von ihr. Doch sie wurde stärker und stärker. Schließlich bemühte ich mich, dem auf den Grund zu gehen und entdeckte:: Ich hatte nichts zu bekritteln. Neubelebt machte ich mich ans Werk und fand Bekrittelnswertes. Ich bin seitdem so froh!

Wie wäre es damit? Fehlt deinem Text etwas?

Der beschlagene Spiegel

Kurzgeschichte zum Thema Eitelkeit
von EkkehartMittelberg

Der alte Meister schenkte seinem Lieblingsschüler einen Spiegel. Der junge Mann wollte sogleich hineinsehen. Doch der Lehrer stoppte ihn: “Warte, bis du das Geheimnis dieses Spiegels kennst. Wenn ein eitler Mensch hineinschaut, beschlägt er, sodass man nichts sehen kann.“ Der Schüler fand die Worte des Meisters alsbald bestätigt. Dennoch versuchte er es jeden Tag aufs Neue, immer mit demselben frustrierenden Ergebnis.
Obwohl er sich schämte, fragte er seinen Mentor um Rat. Dieser empfahl ihm, den Spiegel einem guten Freund zu geben, der bereit sei, seinen Lebenswandel mit Kritik zu begleiten. Der Lehrer sagte noch: „Du wirst bald diesen kritischen Freund verlassen wollen. Aber halte an ihm fest, so lästig er dir auch sein wird.“ „Und was hat das mit dem Spiegel zu tun?“ fragte der Schüler. Der Meister antwortete: „Eines Tages wird dein Freund ihn dir vorhalten und er wird vielleicht nicht beschlagen.“


Falls nicht. Ein Wort wurde entfernt. In Satz zwei.

Antwort geändert am 07.02.2019 um 15:31 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.02.19:
Hallo Dieter, ja, es stimmt. Der Text gewinnt durch Entfernung dieses Wortes. Danke!

 Dieter Wal meinte dazu am 09.02.19:
Sehr gern. Jetzt wirkt es so zeitlos-gültig wie eine Hebel-Anekdote oder ein Gleichnis Wildes.

 AZU20 (13.02.19)
Sehr schön. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.02.19:
Danke, das freut mich, Armin.
LG
Ekki
ElviraS (73)
(03.03.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.03.19:
Hallo Elvira, der Hinweis auf Dorian Gray freut mich sehr, weil ich diesen Roman liebe.
LG
Ekki

 harzgebirgler (09.05.21)
verhehlt ein freund dir deine schwächen nicht
ergibt sich dadurch oftmals freie sicht.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.21:
merci, Henning,
ein guter Freund wird dich kritisch begleiten,
Kritikfähigkeit wählen die Gescheiten.

LG
Ekki
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