Als Grille unter lauter Ameisen. Ein Nachruf

Geschichte zum Thema Persönlichkeit

von  eiskimo

Viktor hat es geschafft. Er ist tot, und er ist nicht unter einer Rheinbrücke verendet, sondern anständig, so anständig wie das heute in einem Pflegeheim erledigt werden kann.
In unserer Volleyball-Gruppe war Viktor immer der Außenseiter gewesen. Nicht etwa, weil er aus dem früheren Jugoslawien stammte und ein ulkiges Deutsch sprach, sondern weil er das Leben genoss. Als promovierter Arzt hätte er normalerweise dazu auch die Mittel gehabt, doch der HNO-Spezialist, der sich nach ersten Jahren an einem deutschen  Krankenhaus früh selbständig gemacht hatte, war für pünktliche Praxiszeiten, ordentliche Buchführung und Regularien mit den pingeligen  Krankenkassen nicht geschaffen. Er machte grandios Pleite... und genoss weiter das Leben.
In der braven Volleyball-Gruppe, die bunt gemischt ist und nur noch der Fitness wegen ein Mal pro Woche trainiert, war Viktors Lebenswandel natürlich immer wieder DAS Thema. Wir erfuhren, wenn wir denn nach dem Sport noch zu einem Bierchen zusammenkamen, immer neue Verrücktheiten: Dass Viktor mit unterschiedlichen Frauen zusammenlebte, wohl auch ein Kind hatte, von seiner ersten Frau  aber nicht geschieden war; dass er sich um diese Kind wohl nie kümmerte, vielleicht nicht kümmern durfte........ Dass er Schallplatten sammelte, und zwar nur extrem seltene und teure, und dass seine Wohnung bis unter die Decke voll davon war.... Dass er nicht kochte und selbst für das Frühstück aus ging, in nahegelegene Cafés oder Restaurants... Und dass er unfassbar großzügig war, herzensgut und nicht nur uns immer einladen wollte, sondern auch den Serviererinnen gern ein üppiges Trinkgeld gab.
Ja, er genoss das Leben, mochte „sich keinen Kopf machen“, aber vor allem war er .. ein Schenkender. Ich mochte Viktor.
Fast dreißig Jahre lief das so mit Viktor und der Volleyball-Gruppe.Von seiner Pleite bis zum Umzug in eine miserable kleine Dachwohnung erlebten wir den schrittweisen Abstieg, der nur abgemildert wurde durch Urlaubsvertretungen oder Wochenend-Bereitschaften, mit denen Viktor ein bisschen zu Geld kam.
Natürlich machten wir uns in der Gruppe schon frühzeitig Sorgen, natürlich unternahmen wir immer wieder Versuche, Viktor ein bisschen „in die Spur“ zu bringen. Wir schenkten ihm eine halbe Küche, damit er wenigstens bei seinen Essensausgaben sparen könnte. Unsere Frauen boten des Öfteren an, seinen Haushalt mal in Ordnung zu bringen. Doch Viktor wollte von all diesen Eingriffen in sein  Paradiesvogel-Leben nichts wissen. Auch nicht, als der Tag seiner Verrentung kam und die Finanzspritzen der Kollegen mit ihren  florierenden HNO-Praxen ausblieben.
Jetzt war Viktor auf eine kümmerliche Rente angewiesen, kümmerlich, weil er natürlich auch nicht vorgesorgt hatte. Nein, reden wollte er bei uns darüber nicht. Klagen auch nicht. Weiter war er der lustige Kauz, der alle Probleme überspielte.  Bis er krank wurde. Bis er der Pflege bedurfte. Bis er die fünf Etagen hoch zu seiner miserablen Dachwohnung nicht mehr schaffte. Bis wir erfuhren, dass seine Krankheit unheilbar war.
Ein paar Mal schleppte er sich noch zu uns in unser Lokal, wo wir "Ameisen" weiter nach dem Sport unser Bierchen tranken. Auch jetzt keine Klagen.  Ob er nicht Hilfe von seiner Ex erwarten könnte, vielleicht von seinem inzwischen erwachsenen Kind, vielleicht von den Kollegen, für die er im Einsatz gewesen war? Kopfschütteln. Viktor tat das alles mit erstaunlichem Gleichmut ab. Und dann lächelnd: Betteln würde er nicht....
Früher, auf dem Dorf oder vielleicht auch heute noch, im ehemaligen Jugoslawien, da hätte einer aus der Sportgruppe diesen  „gescheiterten Lebenskünstler“  bei sich aufgenommen, irgendwo in einem improvisierten Quartier versorgt.
Von uns nahm keiner den Sportkameraden bei sich auf. Wir brauchten dann auch nicht mehr, denn Viktor blieb über zwei Monate im Krankenhaus. Von sich aus unternahm er nichts, um den Kontakt zur Gruppe zu behalten. War es Scham? Nur durch kriminologischen Spürsinn bekam einer von uns raus, wo Viktor gelandet war. So konnten wir wenigstens noch telefonieren. Traurige Gespräche waren das.
Vom Krankenhaus verlegte man Viktor dann in ein Pflegeheim. Auch hier recherchierten wir intensiv, um ihn da ausfindig zu machen. Da wir nicht als „Angehörige“ auftreten konnten, kam von Seiten des Heimes nicht viel Unterstützung. So erfuhren wir von Viktors Tod erst mit drei Tagen Verspätung.
Wird es eine Beerdigung geben? Wird es jemanden geben, der diesem eigenwilligen Kerl  gebührend Adieu sagt?  Wird es für ein Grab reichen? Das weiß ich zur Stunde alles nicht. Aber es gibt diesen Text, mit dem ich Viktor wenigstens ein kleines „in memoriam“ formulieren konnte. Viktor, der sich als Grille treu geblieben war, im Land der Ameisen.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (23.02.19)
Hallo eiskimo,

ich möchte wenigstens hinterlassen, dass ich den Text gelesen habe und dass er mich berührt hat.

Liebe Grüße
Isaban

 eiskimo meinte dazu am 23.02.19:
Danke, das ist eine kleine Geste, die wiederum mich berührt. Denn Viktor war nicht irgend wer...
lG
eiskimo

 EkkehartMittelberg (23.02.19)
Hallo Eiskimo,
man merkt, dass du Viktor herzlich verbunden bist. Anders hättest du nicht so empathisch und fesselnd schreiben können.
LG
Ekki

 eiskimo antwortete darauf am 23.02.19:
Ich freue mich, dass genau dieses Ansinnen für Dich spürbar war. Und wenn es auch gut zu lesen war, umso besser.
Danke für die schöne Rückmeldung
Eiskimo
Trainee (71)
(24.02.19)
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 eiskimo schrieb daraufhin am 24.02.19:
Danke, liebe Trainee!
Noch eine schöne Rückmeldung, die insbesondere meinem Helden sehr gefallen hätte.
Ich wollte diesen menschlichen Graben bzw. unsere oft erschreckende Kälte nicht groß thematisieren, aber Du hast das sofort herausgespürt. Uns fehlt hier schon ein bisschen Warmherzigkeit. Umso verrückter ist ja, dass alle Deutschen, die eben das im Ausland mal erlebt haben, mit nassen Augen davon erzählen.
Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag.
lG
Eiskimo
PS: Wo ist Dein Rollschuh-Bild ?
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