cut up poetry

Glosse zum Thema Realität

von  Bergmann

Cut-up-poetry kenne ich aus Pop-Literatur und Social Beat. Es geht hier wohl mehr um Sinnkomposition aus Zufall (und, dialektisch gesehen: Zufallskomposition mit Kollateral-Sinn). Das Montieren ist dieser meiner Ansicht nach allzu aleatorischen Technik vorausgegangen etwa bei James Joyce, Thomas Mann, Döblin, Max Frisch ... – in je unterschiedlicher Weise. Ich habe sie stellenweise auch angewandt in GIONOS LÄCHELN, allerdings fast homöopathisch und verändert durch traumartige Mixturen oder als nonlineare Narration. Denn lineares Erzählen ist ja metaphysisches Erzählen, jede Sinngebung oder Deutung ist letztlich metaphysisch. In der nonlinearen Erzählung ist der Erzähler kein metaphysischer Beschwörer von Sinn, und der Leser bleibt frei, dies deutend zu tun oder zu lassen. So ist dann Erzählung nicht Antwort, sondern Frage(n). „Wir sind Geschichten, die Geschichten erzählen.“ (Fernando Pessoa) Wir alle sind ein Verbund von Erzähleinheiten und erzählen uns. Wir bleiben frei und entspannt von stressendem Sinnzwang und Selbstverurteilung. Innere Konflikte sind konstitutive Elemente der persönlichen Identität. Hierarchien verflachen, die Zeit wird langsamer. Statt Eroberung anderer Gehirne das Spiel mit den Gehirnen. Das sind so die Ideen dieser Art zu ‚erzählen’.
Und die Moral? Die Verantwortung des Erzählers? Antiaristotelisch soll erzählt werden – aber nicht wie Brecht im ‚epischen Theater’, wo der Kritik zugleich ein ideologischer, also letztlich metaphysischer Überbau zugrunde gelegt war; Brechts Methode ist letztlich wieder aristotelisch auf der Ebene der Weltanalyse und demagogisch wegen der revolutionären Ideologie im Hintergrund und wegen des Arrangements der Fakten, die der Sinnsetzung untergeordnet werden. Autoren und Rezipienten werden der aristotelischen Dramaturgie des Erzählens müde und misstrauen ihr. Unsere Wahrnehmung ist nicht abbildend, sondern konstruktivistisch.
Und wenn wir glauben, wir könnten eine lineare Strategie gegen den Tod entwickeln, basteln wir nur eine private Religion, die uns einlullt. Alles was wir erzählen, ist letztlich Konfabulation, fiktive Erinnerung, also auch Deutung als Fiktion. Nonlineares Erzählen ist sich dieser Erzählvoraussetzungen bewusst und vermeidet sie, so gut es geht, und weiß, dass Sinngebungsfreiheit den Sinn-Unsinn linearen Erzählens nicht vollständig zu überwinden vermag.
Man muss bei dieser Erzählart aufpassen, dass der Leser nicht ermüdet im Suchen nach Sinn oder Über-Sinn und dass er nicht den Eindruck bekommt, es sei hier sowieso alles beliebig. Und daher sollte diese Schreib-Technik vorsichtig, eher sparsam eingesetzt werden. Die surrealistische Literatur krankte am Übermaß ihrer Phantasie, ihrer Montagen und Collagen, die ebenfalls Ähnlichkeit hatte mit cut up poetry, nur dass hier Traum und Metapher noch große Bedeutung behielt, während nonlineares Erzählen sich an Amnesien und verkehrte Zeitfolgen im Sinne des Korsakow-Syndroms anlehnt.
Letztlich ist das eine Technik im Kontext aller Kunstschaffenden, die von der Unmöglichkeit, Realität abzubilden, überzeugt sind, und daher jedes behauptete Sinn-Continuum verfremden durch Comicalisierung, Ironisierung, Steigerung ins Surrealistische, Absurde, Lächerliche oder eben alle Mittel, die mit dem nonlinearen Erzählen zu tun haben. Refracted Realities heißt eine derzeitige Videokunst-Ausstellung im Bonner Kunstmuseum, die mit Zerstückelung und Überfrachtung, Gleichzeitigkeit mehrerer Realitätsfetzen zeigen will, dass eine konsensuale Interpretation unmöglich wird.
Warten wir ab, wohin das alles führt. Der Dadaismus war vielleicht die erste Bewegung dieser Art, Sinn in Frage zu stellen – allerdings war diese Bewegung noch nicht so radikal in der Resignation der Sinnsuche. Auch Kubismus, Expressionismus, Surrealismus, Symbolismus waren noch Versuche, Sinn zu erfassen.
Cut up überantwortet die Sinnstiftung über den Umweg weitgehend zufälliger Fragmentierung des Seins und der Seinsprozesse der Subjektivität des Betrachters/Lesers. Ich finde, ein hilfloser Versuch, eine Zumutung für den Leser, auch Feigheit vor der eigenen Sinngebung.
Daher empfehle ich (mir selbst), derartige Techniken nur als Stilmittel einzusetzen in einem insgesamt konventionellen Erzähl-Kontext. Mit Sinn-Vorschlägen also. Dem Leser kann ja, um Manipulationen gering und durchschaubar zu halten,  die Lesesteuerung hin und wieder bewusst gemacht werden. Zu diesem Mittel griff schon Thomas Mann, wenn auch hin und wieder ironisch.

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Kommentare zu diesem Text


 tueichler (25.02.19)
Vielleicht ist da ja das Geheimnis, das wir beim Lesen erkunden wollen. Nicht einfach das Narrativ erfahren, sondern die Gelegenheit zu haben, dieses weiter zu spinnen und so, ergänzend, abweichend, uns selbst provozierend und damit kritisierend oder schöpferisch erweiternd die Bilder in uns zu erzeugen, die zwar uns eigen aber dem Autoren dennoch willkommen oder bekannt sind:

„Denn lineares Erzählen ist ja metaphysisches Erzählen, jede Sinngebung oder Deutung ist letztlich metaphysisch. In der nonlinearen Erzählung ist der Erzähler kein metaphysischer Beschwörer von Sinn, und der Leser bleibt frei, dies deutend zu tun oder zu lassen.“

Wenn man schreibt und immer schon das Ergebnis der Leistung des Rezipienten, eine eigene Realität zu erzeugen, die der des Autoren gleicht oder ähnelt, abschätzen können würde, wäre der Schöpferische Akt des Schreibens nurmehr eine wiederkehrende Kopie des Denkens des Autors:

„die von der Unmöglichkeit, Realität abzubilden, überzeugt sind“

Sehr gern gelesen!

Tom

 Bergmann meinte dazu am 26.02.19:
Lieber Tom,
ein guter Gedanke in deinem dritten Absatz.
So sehr der Leser mitdenken und weiterdenken will - er will auch geführt werden, sonst könnte er ja selber schreiben.
Vermutlich wird der Anteil der Führung auch für sehr intellektuelle Leser deutlich höher sein als das, was er selber denken will, jedenfalls gilt das zumindest quantitativ. Jeder Leser darf den gelesenen Autor und sein Werk aber auch überbieten. Es ist gut, wenn's ihm der erzählende Autor schwer macht.
Herzlichst: Uli

 loslosch (26.02.19)
herausgepickt: "... Feigheit vor der eigenen Sinngebung." gelegentlich kommt auch noch list hinzu.

 Reliwette (10.10.19)
Besonders gefällt mir Deine Empfehlung, den Text nicht so zu gestalten, dass die Leser ermüden. Ergänzend dazu ein Zitat von mir anlässlicher einer Ausstellungseröffnung in Bochum. "Ich muss mit dem Text fertig werdern (beim Rezitieren), bevor die Leser eingeschlafen sind." Das fand sogar die Presse lustig..
Übrigens, unsere großen Dichter vergangener Epochen konnten ganz flapsige Verse schreiben: "Loch in Erde, Bronze rin, Glocke fertig bim bim bim - oder so;
Oder wie war das mit dem Gartenzaun: "Hier den Latte, da ne Latte - und dazwischen Zwischenraum - fertig ist der Gartenzaun.". Oder:
Es saß ein Frosch im grünen Gras - er tat nicht dies - er tat nicht das- er war nur nass! Ist das jetzt ein linearer Text?
Lieber Gruß!
Dein Hartmut T.R.

 Bergmann antwortete darauf am 10.10.19:
Dank, lieber Hartmut, für dein Kommentieren unter einigen meiner Texte! Ich hatte früher dreimal so viele Texte hier. Ich bin nicht müde, nur kv-müde.
Dein Uli

 Reliwette schrieb daraufhin am 11.10.19:
Lieber Uli, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Wenn das Mindestmaß der Übereinstimmung.- also das Grundlegende, was die Welt und die Auslegung ihrer Erscheinungen anbetrifft, nicht übereinstimmt, fängt es an gruselig zu werden!

Dein Hartmut
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