Von den Argen

Kurzprosa zum Thema Leben

von  fritz

Etwas liegt im Argen. So sagte man doch und so hatte es der kleine Moritz immer wieder gehört. Weder wusste er, was im Argen lag noch wo dieses Argen eigentlich liegt. In seinem Atlas und in den Büchern, die er schon besaß, konnte er dazu nichts finden. Auch im großen Lexikon des Vaters kam es als Stichwort nicht vor. »Wo ist das, im Argen?«, fragte er immer, wenn die Worte fielen, seine Mutter und manchmal auch seinen Vater. Doch beide hatten in solchen Situationen nicht die Nerven, um auf ihr Kind einzugehen. Anders Opa Helmuth, wenn er zu Besuch war. Das kam zwar inzwischen selten vor, denn er war nicht mehr so fit auf den Beinen. Aber immer wenn er da war, freute sich Moritz, weil er dann mit Sicherheit eine Geschichte hören würde. Und Opas Geschichten waren meist sehr spannend, und wenn nicht spannend, dann doch wenigstens so bildhaft erzählt, dass Moritz sie wirklich vor sich sehen konnte, wenn er die Augen schloss. So war es auch diesmal. Als die Eltern gerade nicht im Zimmer waren, nutzte Moritz die Gelegenheit. »Du Opa, wo ist das, im Argen?« Opa Helmuth sah seinen Enkel verdutzt an und weil er nichts sagte, fügte Moritz hinzu: »Man sagt doch, etwas liegt im Argen. Aber niemand sagt, was im Argen liegt und wo und was überhaupt dieses Argen ist. Alles scheinen es zu wissen, aber ich, ich weiß es nicht.« Opa Helmuth verstand jetzt und begann zu erzählen.
»Das Arge gibt es schon seit es alles gibt, vom Beginn der Welt bis jetzt und das Arge wird es wohl auch immer geben. Es ist aber nicht ein Ort, nicht ein Land, nicht ein Fluss oder ein Meer oder ein Gebirge. Das Arge ist ein junges Wort und es meint eigentlich das, was man lange Zeit die Argen nannte, die man heute noch überall auf der Erde finden kann, auch wenn sie in keinem Buche stehen. Die Argen sind dünne, ganz schmale und gefährliche Wasser- oder Landpfade, die oft über tiefe Abgründe führen. Meist münden die Argen in klare Seen oder Meere, oder sie breiten sich in saftig grüne Inseln aus, und manchmal auch zu ganzen Ländern oder Kontinenten. Es heißt, wenn man es einmal geschafft hat, zusammen über eine Arge zu gehen, ohne abzustürzen, dann sei man für immer unzertrennlich. Und auch wenn die Argen qualvolle Wege sind, die manch einer nicht zu bewältigen vermag, und obwohl sich manche dafür entscheiden, in den Abgrund zu springen, um nicht mehr leiden zu müssen, so gibt es doch immer wieder viele, die es mit den Argen auf sich nehmen. Sie wissen nicht nur, dass etwas im Argen liegt, dass das Arge also nicht zu umgehen ist, so sehr es auch wehtut und so sehr wir nicht und niemals ganz verstehen werden, warum es wehtun muss. Nein, sie sehen auch am Ende schon das verheißene Land, das tiefruhige Meer. Es mag irgendwann und irgendwo die nächste Arge kommen, aber denke daran, was ich Dir gesagt habe: Wenn zwei es einmal geschafft haben, zusammen über eine Arge zu gehen, ohne abzustürzen, so sind sie ewig unzertrennlich.« – Moritz freute sich. Er dankte seinem Opa und lief hinaus in den Garten. Und weil er nun, wenn seine Eltern wieder einmal streiten würden, etwas zu sagen hatte, musste er unwillkürlich lächeln.

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Kommentare zu diesem Text

Trainee (71)
(04.03.19)
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 fritz meinte dazu am 04.03.19:
O Danke, das freut mich! Und umso mehr, als ich mir mit meiner Prosa - im Vergleich zu meinen Gedichten - sehr unsicher bin. Wenn Sie dann aber Eindruck macht, so ermutigt mich das einmal mehr, weiterzumachen. (-:

Lieber Gruß!
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