Brüssel ist weit

Kurzgeschichte zum Thema Erwartung

von  eiskimo

Er wollte seine Tochter wiedersehen. Sie lebt zehn Flugstunden weit weg in  den USA, verheiratet, ein Kind. Tolle Karriere im IT-Sektor. Ihr Kontakt ist minimalistisch – kurze Telefonate an Weihnachten, zu den Geburtstagen. Jetzt war sie in Brüssel für die Firma, hatte einen halben Tag Zeit. Ob er nicht auf einen Sprung vorbei schauen wollte, vormittags.  Klar, da konnte er nicht Nein sagen. Brüssel kann er in drei Stunden erreichen.
Am Vorabend seiner Anreise zieht Sturmtief Alberta über Westeuropa, Sturmböen in Orkanstärke reißen Oberleitungen ab, entwurzeln Bäume. Der Zugverkehr kommt zum Erliegen. Was tun? Zu Hause bleiben? Die Begegnung absagen? 
Er beschließt, die 300 Kilometer per Pkw in Angriff zu nehmen. Er weiß, das lässt sich ganz gut fahren, es ist fast nur Autobahn. Und im Radio hört er zwar von Sturmschäden, aber die Autobahnen scheinen nicht betroffen.
Er startet in aller Früh, es fegt immer noch heftiger Wind, und auch Regen und Graupel sind dabei. Ein paar kleinere Staus im Grenzgebiet bei Aachen, Stop-and-Go bei Lüttich wegen diverser  Baustellen – der Autobahnring vor Brüssel – zäh fließender Verkehr. Sein Navi hat Probleme mit einer Umleitung. Das Parkhaus, das er am Vorabend noch online als Zielort eingegeben hatte – weg!
Verzweifelt hält er an und macht hastig eine SMS, dass er etwas Verspätung haben wird.
Da sieht er Leute an einer Bushaltestelle warten, die Schultern im kalten Wind ganz eng. Kurzerhand fährt er sein Auto in eine Parklücke, sortiert seine Sachen in eine Umhängetasche – darunter das kleine Geschenk für die Enkeltochter – und begibt sich zu den Wartenden. Mit seinem kargen Schulfranzösisch kriegt er raus, dass der Bus ins Zentrum fährt – da kann das noble Hotel der Tochter nicht weit sein. Es beginnt zu regnen, er friert – auf  diese Art Reise ist er nicht vorbereitet. Aber dann kommt endlich der Bus, der allerdings nun endlos viele Haltestellen anfährt.
Längst ist der ausgemachte Termin ihres Treffens überschritten,ja, er ist schon weit über eine Stunde zu spät.  Was kann er tun?
Im Zentrum angekommen, fragt er sich durch. Ein paar hastige Minuten Fußmarsch – und dann steht er tatsächlich vor dem Warwick Brussels....
Nein, seine Tochter sitzt nicht in der Lounge. Er sieht sie auch nicht im Frühstücksraum. Da wird nur alles abgeräumt.
An der Rezeption ist man sehr hilfsbereit. Ob man die Dame anrufen solle, ihr sagen, dass jemand hier auf sie warte?
Da zögert er plötzlich. Er schaut auf die Uhr. Viel Zeit bliebe da nicht mehr, bis ihr Meeting beginnt. Dieses wichtige Meeting, für dass sie extra aus den USA in die Alte Welt zurückgekommen war.
Hinter ihm eilen ein paar junge Leute durch den Eingang, mit Rollköfferchen, Laptop-Taschen. Sie sprechen Englisch, sind gut drauf. Ihr Meeting wird pünktlich beginnen.

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (12.03.19)
Gehste eben mit rein ins Meeting. :D
Neenee, ich weiß schon, was du sagen willst.

Gute Idee!

Lotta
ElviraS (73)
(12.03.19)
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 eiskimo meinte dazu am 12.03.19:
Danke!
Hart ist es besonders, wenn die eigenen Leute einen stehen lassen...
vG
Eiskimo
Cora (29) antwortete darauf am 13.03.19:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo schrieb daraufhin am 13.03.19:
Das ist seine Tragik, und er wird sich fragen: Was hab ich nur falsch gemacht...

 Dieter_Rotmund (08.04.19)
Da ist mehr oder weniger bei Toni Erdmann abgeguckt.

 eiskimo äußerte darauf am 08.04.19:
Ich habe den Film nie gesehen. Ich erlebe Situationen selber und die sind sprechender als Kino....

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 09.04.19:
"sind sprechender"? Verstehe ich nicht, was bedeutet das?
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