Der Unfall

Kurzgeschichte zum Thema Nachdenkliches

von  diegoneuberger

Ich war froh, auf die Knie gehen zu können, um das Blut vom Boden aufzuwaschen. Nach allem, was ich diese Nacht erlebt hatte, war ich immer noch wackelig auf den Beinen. Und obwohl es fünf Uhr früh war, hätte ich unmöglich schlafen gehen können.
Wie war das alles passiert? Was war in Katjas Kopf vorgegangen, was war in Wirklichkeit geschehen? Ohne auf eine Antwort zu hoffen, versuchte ich, alles nochmals der Reihe nach durchzugehen.
***
Ich hatte abends mit einem seltsamen Gefühl im Bauch die Wohnung nochmals Richtung Büro verlassen. Danach versuchte ich mehrmals, Katja zu Hause anzurufen, doch ohne Erfolg. Schließlich war sie es, die mich erreichte: Ihre Stimme hatte seltsam verschwommen geklungen, wie durch Watte.
Dieser mir an ihr unbekannte Klang hatte mich zutiefst beunruhigt. Unter einem Vorwand hatte ich das Büro wieder verlassen und war nervös im Taxi nach Hause gefahren.
***
Das Blaulicht und die Sirenen sind mir am stärksten in Erinnerung geblieben. Wir jagten im Ambulanzwagen durch die Stadt, Katja lag mit starrem Blick auf dem Bett. Dann das Krankenhaus, die Notambulanz: stöhnende Menschen, die ihr Unglück nicht fassen konnten.
***
Doch zuvor das Blut – das war das Erste, das ich wahrnahm, als ich nach Hause kam. Dann sah ich Katja: Sie kniete mitten drin am Boden, nackt. Mit einer Kehrichtschaufel und einem Besen versuchte sie, die überall verstreuten Scherben aufzukehren. Erst beim zweiten Hinsehen sah ich ihren Rücken, die große dunkelrot klaffende Wunde, die sich von ihrer linken Schulter über mehr als vierzig Zentimeter nach unten zog.
In Panik riss ich sie hoch, sie sah mich aus verhangenen Augen an, schwankte auf ihren Beinen. Ich führte sie ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett, ohne daran zu denken, dass sie so alles blutig machen würde. Der Gang war ohnehin verschmiert mit Blut, was machte das noch aus?
„Was ist geschehen?“, schrie ich Katja an, stellte aber die Frage mehr mir selbst. Ich verständigte den Notarzt und rannte zurück in den Gang. Der obere, verglaste Teil der Küchentür war zertrümmert. Blut klebte zum Teil noch an den spitzen Scherben, die im Holzrahmen steckten. Mir wurde übel, doch jetzt war nicht der Moment, um sich selbst nachzugeben.
Hatte Katja gespürt, was an diesem Samstagnachmittag geschehen war?
Schritte hinter mir rissen mich aus meinen Gedanken. Sie stand wieder da und blickte mich wie fiebrig an, etwas von einer heißen Dusche stammelnd, die sie genommen hatte, dass ihr schwindlig geworden war, als sie aus dem Bad gestiegen war und durch den Gang zurückging.
Die Türglocke läutete schrill. Ich warf Katja den Bademantel über und öffnete. Es war der Notarzt. Seine Anwesenheit beruhigte mich auf mehr als eine Art. Er nahm die Verantwortung von mir, sowohl die vordergründige über Katjas körperliche Gesundheit, aber auch die über die Geschehnisse dieses Nachmittags.
Nach der Fahrt ins Krankenhaus das lange Warten im Spital:  Zunächst wurde Katja notversorgt, und dann musste sie in diesen langen Gängen auf einer Bahre warten. Das kalte Neonlicht, die mit Desinfektionsmittel geschwängerte Luft, das Leiden, das von allen Patienten ausgehend in der Atmosphäre lag, bedrückten mich.
Der Arzt kam zu mir und sprach vom Glück, dass ich Katja gefunden hatte. Sie hatte sehr viel Blut verloren, so wollte er sie über Nacht im Spital behalten, aber sie würde keine Schäden davontragen. Ich fragte ihn, wie das hatte passieren können. „Trinkt ihre Frau gerne einmal zu viel Alkohol?” Ich starrte ihn an. „Nein”, stammelte ich, „das glaube ich nicht, das hat sie noch nie getan!”. – „Behalten sie das jedenfalls im Auge, irgendetwas hat sie heute Abend im wörtlichen Sinne umgeworfen’”.
***
Ich stand mit dem blutigen Fetzen in der Hand auf, warf ihn ins Waschbecken und wusch ihn aus. Die Wohnung war seltsam leer ohne Katja. Ich ging in die Küche, dann ins Wohnzimmer, suchte überall nach Spuren von Alkohol, Gläsern, einer Flasche. Wie erwartet fand ich nichts.
Ich war sicher, was es gewesen war. Doch wer würde mir das glauben? Wer würde mir abnehmen, dass Katja gespürt hatte, dass ich mit einer anderen Frau unterwegs gewesen war, sie betrogen hatte? Der Unfall mit der Glastür war ihr Hilfeschrei gewesen, mich ihr zuzuwenden, mich um sie zu kümmern. Und der Schrei war so laut zu mir gedrungen, dass ich ihn im Unterbewusstsein bis in mein Büro gehört hatte.
Ich kannte Katja zu gut und auch mich selbst. Nie würde ich eingestehen können, was an diesem Nachmittag geschehen war. Und sie würde ihren sehrenden Verdacht nie zugeben. Wir werden in Zukunft mit dieser Geschichte leben, wissend, doch nie bekennend; nicht ich, der Schuldige, nicht sie, die Hintergangene. Und jedes Mal, wenn ich sie fortan ausziehen werde, wenn meine Hände über ihren nackten Rücken fahren, werde ich die Narbe spüren, die Narbe unserer Beziehung. Sie wird erschaudern, ihren Blick wegwenden, und wenn wir dann miteinander schlafen und ich dabei die Augen schliesse, werde ich wieder das Blut sehen, das ich nie ganz wegwischen kann.


Anmerkung von diegoneuberger:

Ich war hier vor vielen Jahren schon als Autor registriert, habe aber dann nur einen Text veröffentlicht - diesen hier. In der Zwischenzeit ist er nicht mehr zu finden gewesen, und da ich jetzt wieder aktiv hier schreiben möchte, stelle ich ihn sozusagen als "Samen" wieder online.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Stelzie (55)
(20.06.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 LottaManguetti (21.06.19)
Mir gefällt, wie du Kreise schließt, wie du deinen Text und Bilder entwickelst (Ich war froh, auf die Knie gehen zu können ... wacklige Beine).

Tolle Metaphern, die, obwohl schon tausendfach bemüht, neue Bilder erschaffen. Das muss man erstmal können!

Ich mag es sehr.

Hi und da verplapperst du dich ein wenig, bzw. bin ich der Meinung, das brauchts nicht unbedingt. Aber im Großen und Ganzen servierst du uns hier Können auf gutem Niveau.

Was ist "sehrenden"?
Verschreibchen? :D
Nein! Wieder Neues dazugelernt: sehrend=verletzt, verwundet
Kannte ich nicht.

Ich führte sie ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett, ohne daran zu denken, dass sie so alles blutig machen würde. Der Gang war ohnehin verschmiert mit Blut, was machte das noch aus?

Da hing ich am gedoppelten "ohne" fest. Aber das kann man ja rasch ausmerzen.

Bin gespannt auf mehr und danke fürs Einstellen.

Lotta

Kommentar geändert am 21.06.2019 um 11:05 Uhr

 Dieter_Rotmund (21.06.19)
Ich habe den Text schon damals kommentiert, soweit ich mich erinnere.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram