Wir öffnen Kasse Zwei für Sie

Beschreibung zum Thema Kultur

von  eiskimo

Als frisch gebackener Rentner, der den lieben Tag plötzlich ohne präzisen Beschäftigungsplan überstehen muss, habe ich mir die Kasse beim Discounter ausgeguckt, ja, quasi als neue Wirkungsstätte. Denn da rollt der Rubel;  mehr noch: Da lassen sich meine Mitmenschen wie unter der Lupe beobachten. Sie zeigen im wahrsten Sinne, was sie in sich haben.
Ich scanne natürlich mit geübtem Blick ihre Caddies und lese darin die Einsamkeit des Singles, die Verzweiflung des Alkoholikers, die Fantasielosigkeit eines Hundebesitzers, das Bio-Fixiert-Sein der Studenten und natürlich den Stress mancher Alleinerziehenden.
Auch das Anstehen mit dem Aufs-Band-Legen der Waren ist Anschauungsunterricht pur. Manche haken noch sorgfältig die erstandenen Artikel auf einer minutiös beschriebenen Liste ab, andere  haben schon wieder ihr Smartphone in Vorhalte, sind quasi schon an der nächsten Baustelle; wieder andere lassen alles stehen und liegen, weil sie noch gerade ein Viertelpfund Quark von ganz hinten im Laden holen müssen, und ein paar spielen auch „den Genervten" , schubsen ihren Vorgängern den Caddie in die Hacken, verdrehen die Augen, weil die Kassiererin etwas neu „bongen“ muss oder tatsächlich jemand wegen einer „Retoure“ vorgelassen wird. Gesprochen wird kaum etwas in diesen Momenten, höchstens die Zauberformel „Bar oder Karte?“
Und dann beginnt ein dritte,  höchst sehenswerte Phase beim Kauf-Akt: Das Zücken von Brieftasche,  Aufbröseln einer Handtasche oder Aus-der-Gesäßtasche-Fummeln  eines Portmonees. Einige geraten da in peinliche Hektik, lassen Fotos oder Münzen herausfallen und sind spürbar überfordert vom finalen Tempo an diesen modernen Kassen: Sie sollen ihre Waren wieder in den Caddie bugsieren und schon – am besten gleichzeitig -  passend auf die ausgehaltenen Hand der Kassiererin reagieren. Andere entdecken just in diesem Moment den Reiz der neuen Langsamkeit, versuchen tatsächlich ein Pläuschchen mit der völlig aseptisch guckenden Verkäuferin und suchen in den hintersten Winkeln ihrer Geldbörse das noch fehlende Kleingeld  - „Ach, da war doch vorhin noch ein Fünfzig-Cent-Stück, aber wissen Sie, ich kann die immer noch nicht von den Zwanzigern unterscheiden – schrecklich, diese Euro-Münzen!“
Die Nachfolgenden bekommen merkwürdig stechende Blicke, was unseren Umstandkrämer aber nicht daran hindert, beim Zurück-Verstauen seiner Zahlungsmittel wiederum sehr umsichtig vorzugehen. Knisternde Spannung ist dann an Kasse Drei, ganze Feierabend-Gestaltungspläne scheinen torpediert!
Bargeldloses Zahlen, so meine Erfahrung, muss da nicht unbedingt schneller gehen. Das Herausfinden der richtigen Kreditkarte und Durchprobieren der richtigen Geheimzahl kann sich auch schon mal länger hinziehen – richtig, die betreffende Kundin muss ja vorher schließlich ihre Lese-Brille finden, und die gesuchte Geheimzahl hat sie in ihrem Handy abgespeichert....
Toll dann, wenn am Höhepunkt der kollektiven Ungeduld eine seidenweiche Frauenstimme per Lautsprecher durchsäuselt: “Wir öffnen Kasse Zwei für Sie!“
Die so mühsam aufgestaute Warte-Ergebenheit explodiert. Zentnerschwere Einkaufswagen werden im flotten Hüftschwung vom Laufband weg- und zur neuen Auflege-Gasse hin „geflogen“, manche Kunden hechten förmlich auf die Pole-Postion, um entscheidende Momente des Zeit-Verlustes zu kompensieren. Das hat etwas Archaisches – unsere Dschungelprägung blitzt da auf. Endlich ist einmal die gespielte Lässigkeit unserer Rundum-Versorgten aufgebrochen. Da wird live gelebt.
Ich genieße diese Momente der Authentizität.
Merke: Selbst Einkaufen als ausgemusterter Rentner kann noch etwas Bewegendes haben.

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Kommentare zu diesem Text


 niemand (05.08.19)
Gut beobachtet und humorvoll wiedergegeben
LG niemand

 Bella meinte dazu am 05.08.19:
Finde ich auch :D

 eiskimo antwortete darauf am 05.08.19:
Danke! Ich freue mich, wenn man meine spektakulär-unspektakulären Erlebnisse nachvollziehen kann.
LG Eiskimo

 Buchstabenkrieger (05.08.19)
Hallo eiskimo,

nette Beobachtungen.
Ich hätte mir vielleicht noch das Besondere gewünscht. So bleibt es m.E. ein Ereignis, wie es ein jeder (gleich) erlebt.

Kleinigkeiten:

Ich scanne natürlich mit geübtem Blick ihre Caddies, und lese darin
Das Komma ist m.E. überflüssig.
Caddy/Caddies: Habe ich noch nie für Einkaufswagen gehört (wahrscheinlich regional?) Wieder etwas dazugelernt

Und dann beginnt ein dritte höchst sehenswerte Phase
Komma nach dritte

„den Genervten“ - schubsen ihren Vorgängern
und schon – am besten
Schau mal. Beim zweiten Satz hast du die richtigen Halbgeviertstriche.

abgespeichert....
Leerzeichen, nur drei Auslassungspunkte

durchsäuselt:“Wir öffnen Kasse Zwei für Sie!“
durchsäuselt: "Wir öffnen Kasse Zwei für Sie!“

Toll dann, wenn am Höhepunkt der kollektiven Ungeduld eine seidenweiche Frauenstimme per Lautsprecher durchsäuselt:“Wir öffnen Kasse Zwei für Sie!“
Dann explodiert die so mühsam aufgestaute Warte-Ergebenheit.
Dann: Wortwiederholung.
Vorschlag: Die so mühsam aufgestaute Warte-Ergebenheit explodiert.

LG, Buchstabenkrieger

 eiskimo schrieb daraufhin am 05.08.19:
Hallo,
was für ein Auge für all die Patzer! Danke. Ich korrigiere gerne.
Etwas "Besonderes" erlebe ich da selten...
ciao
Eiskimo

 idioma (05.08.19)
TOLL beobachtet und TOLL beschrieben !!!

Eben das so elendig UN-Besondere ist das Wesentliche
und wird durch die umso besonderere Sprache
buchstäblich s e z i e r t !
Große Klasse !

Das größte Geheimis ist und soll bleiben, was in der durch Ungeduld Hetze und Stress gewonnenen Zeit Besonderes angestellt und erlebt wird...... dieses Geheimnis zu verraten wäre vollends niederschmetternd !
idi

 eiskimo äußerte darauf am 05.08.19:
Wauww - so viel Lob, da lacht das Herz. Danke! Deine Begründung gefällt mir besonders, da lohnt es sich, drüber nachzudenken!
LG
Eiskimo

 AchterZwerg (06.08.19)
Lieber Eiskimo,
ich bin schon deswegen angenehm berührt, weil eines meiner Gedichte den gleichen Titel trägt.
Und bekenne mich an dieser Stelle frei & frank zur Aldi-Süd-Aficionada. Was ich dort schon alles erlebt habe! Zuweilen bleiben mein Gesprächsbedarf und der Wunsch nach realer Anschauung für den ganzen Tag gedeckt.
Manchmal lache ich allerdings blödsinnig vor mich hin. - Realsatiren sind halt die besten.

Schöne Grüße
der8.

 eiskimo ergänzte dazu am 06.08.19:
Es grüßt Dich ein Seelenverwandter. Und wir empfinden den Alltag wohl beide als grandioses Kino. Aldi schönen Erlebnisse....
i diesem Sinne
Eiskimo

 LottaManguetti (06.08.19)
Ich habe mich sehr amüsiert, eiskimo! Danke.

Lotta

 eiskimo meinte dazu am 06.08.19:
Das freut mich und inspiriert mich für Neues aus dem Rentner-Alltag.
Eiskimo

 Regina (06.08.19)
Die Leute sind auf den Zahlvorgang konzentriert und verhalten sich so, wie sie sind, nicht, wie sie erscheinen möchten. Dabei hast du sie sehr genau beobachtet. Gut. LG Gina

 eiskimo meinte dazu am 06.08.19:
Ja, beim Geld fällt so manche Maske. Ein ganz zentraler Wirkstoff...
cu
Eiskimo
Agneta (62)
(06.08.19)
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