Traum? Kapitel 20

Kurzgeschichte zum Thema Meer

von  Manzanita

Eigentlich müsste ich nur schwimmen; ich müsste nur meinen Gleichgewichtssinn aktivieren, dann würde ich in kürzester Zeit ankommen. Aber das ist alles nicht.

Ich falle ins Wasser. Aber mein Körper tut so, als ob absolut gar nichts passiert ist. Als ob ich immer noch gemütlich auf dem kleinen Boot sitzen würde und mich schrecklich langweilen würde. Aber nun bin ich nicht mehr auf dem Rettungsboot, sondern im Meer und schwimme an die Küste. Oder zumindest will ich an die Küste schwimmen. Nur sind meine Muskeln da wohl völlig anderer Meinung. Oder sie haben es noch gar nicht mitbekommen, vielleicht sind sie eingeschlafen.

Ich habe mal einen Film gesehen, wo jede einzelne Aktion im Gehirn gedacht wird und dann mit kleinen Männchen zu den einzelnen Gliedern „transportiert“ wird. Vielleicht sind diese Männchen eingeschlafen. Oder sie streiken, weil ich nicht mehr so viel esse und trinke, und sich dadurch ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern. Ein lustiger Gedanke, der aber irgendwie auch der Realität ähnelt. Denn schlafen können Muskeln nicht, Nervenimpulse auch nicht. Aber streiken, wenn sie nicht mehr genug Nährstoffe bekommen, das können Muskeln bestimmt gut.

Und ich bekomme auf jeden Fall zu wenig Nährstoffe, das kann niemand mehr bezweifeln. Aber das kann auch niemand ändern, denn weit und breit habe ich nichts zu essen oder zu trinken, bevor ich zur Küste komme. Und viel Zeit habe ich auch nicht, ich kann mich ja nirgends festhalten, bevor ich untergehe.

Bevor ich untergehe. Klingt fast schon futuristisch, hier mitten in der Tiefe. Hier, mitten zwischen Fischen und Meerespflanzen, die mich bestimmt verwundert begrüßen, hier in ihrem Reich, wo ich ihnen bestimmt so fremd vorkomme.

Aber ich kann sie nicht sehen; ich kann sie nicht hören, nur spüren, das kann ich sie noch. Alle meine anderen Sinne sind notgedrungen eingestellt. Meine Ohren sind mit Wasser verstopft, bald wird es durch den Kopf in meine Nase kommen und diese von beiden Seiten erobern. Meine Augen brennen wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Ich möchte sie reflexartig schließen, aber das hilft nicht. Das Wasser hat sich schon so tief in die Schleimhaut reingebohrt, dass es bleibt, auch wenn keine Verstärkung mehr auftaucht. Aber da hilft alles nicht, ich muss was unternehmen. Ich muss mich vor dem Sterben bewahren, die letzte Chance nutzen.

Das sage ich meinem Körper.

Und da kommt die Antwort: Mit einem Schubs setze ich mich in Bewegung. Meine Schultern zucken nach oben, erst folgen ihnen die Arme, dann der Rumpf. Ich begebe mich auf eine Reise an die Oberfläche des Wassers, die gefühlt Stunden dauert, oder dauern müsste. Aber seitdem die Augen vor Erschöpfung und Müdigkeit aufgehört haben zu brennen und das Wasser von den Ohren zurückgetreten ist, kann ich mir nichts angenehmeres mehr vorstellen. Ich flutsche durch Unmengen von Wasser, es wird immer heller. Licht trifft auf mich auf, ich weiß es, obwohl ich meine Augen nicht mehr spüre. Bald bin ich oben, auch wenn ich jetzt noch unten bin, bald werde ich oben sein. Und dann fehlt nicht mehr viel.

Oben angekommen lege ich mich schweigend in die Wellen.

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