Wie die Sonnenuhr

Kurzprosa zum Thema Hoffnung/Hoffnungslosigkeit

von  Irma

„Wie spät ist es?“, frage ich den alten Mann, der mir eine Münze in mein Cappy wirft. „Schlag fünf!“, erwidert er. Seit dem frühen Morgen sitze ich in der prallen Sonne, und meine Kehle ist staubtrocken. Ich zähle meine Tagesbeute, schmeiße die Kippe vor mir auf den Boden und stehe auf. Zwei Flaschen Berliner Kindl müssten allemal drin sein. Und hinten beim Döner-Laden fragt niemand nach meinem Alter.

Langsam schlendere ich vom Hermannplatz in Richtung Sonnenallee, die ihrem Namen heute alle Ehre macht. Die Luft steht in der Straße. Mir läuft das Wasser nur so den Rücken hinunter, und mein klitschnasses Shirt klebt an meiner schrundigen Haut. Für heute Abend haben sie ein schweres Unwetter angekündigt. Mit halb zugekniffenen Augen schaue ich hoch zum Himmel, wo tatsächlich die ersten grauen Wölkchen aufziehen. Es soll einen Wetterumschwung geben, heißt es. Die aufgestaute Hitze werde sich in einem kräftigen Gewitter mit starken Sturmböen und Hagelschauern entladen. Es soll gewaltig was runterkommen.

Ich biege um die letzte Ecke und verlangsame meinen Schritt. Vom Ende der Straße aus blickt mich das alte Schulgebäude an, um das ich am liebsten einen weiten Bogen machen würde. Aber auf dem Hof höre ich die Jungs. Sie spielen noch Fußball. Schon kann ich ihn sehen, sein heller Blondschopf leuchtet heraus. Ganz klar, er ist der einzige, der bei dieser Hitze eine lange Hose trägt. Und natürlich auch einen langärmeligen Pulli. Kevin ist am Ball, er kämpft sich vor. „Ej Keule!“, rufe ich ihm zu. Als er mich entdeckt, strahlt er übers ganze Gesicht und stürmt mir entgegen: „Give me five!“ Lachend schlägt er mit seiner kleinen Faust gegen meine Handfläche.

Ich bücke mich zu ihm hinab. „Du hast zu viel Sonne abbekommen, Großer!“, sage ich und drücke ihm mein Cappy in die überhitze Stirn. „Ab geht’s.“ Kevins Gesicht verfinstert sich umgehend. Bevor er wieder davonstürmen kann, greife ich seine kleine Hand und ziehe daran. Er bockt etwas und macht sich extra schwer, aber ich lasse nicht locker. „Los komm, es wird Zeit, du weißt ja, was sonst passiert.“ Wortlos laufen wir eine Weile nebeneinander her, Schritt für Schritt unseren lang hingeworfenen Schatten folgend.

„Wieviele?“, frage ich in die Stille hinein. Eine kurze Sekunde lang schaut Kevin mich ratlos an, dann blitzen seine Augen auf. Sofort kommt sein sonniges Gemüt wieder zum Vorschein. Seine Stimmung kann von einer Sekunde auf die andere umschlagen. „Fünf!“, wirft er mir entgegen. „Fünf Stunden?“, frage ich erstaunt. „Alle Wetter! Das ist eine Menge.“ „Also wir hatten heute Sport, das war klasse“, erzählt Kevin mit ungetrübter Freude. „Dann habe ich mit den Jungs Fußball gespielt und sogar ein Tor geschossen. Und jetzt holst du mich ab. Das zählt doppelt“, klärt er mich auf. „Mindestens. Oder sogar dreifach!“

Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht. Kevin schafft es immer wieder, mich kurz aufzuheitern. „Und bei dir?“, will er plötzlich wissen. Ich schweige. Meine Zeitrechnung geht anders. Für mich zählen nur noch diese anderen Momente, die sich düster und schwer auf meine Seele legen und alles Heitere überschatten. Die Minuten schlagen die Stunden, sie machen sich breit und rauben mir den Atem. „Wieviele Stunden waren es heute bei dir?“, fragt Kevin noch ein weiteres Mal, und nach einer Weile antworte ich ihm: „Was zählt, bist ganz allein du.“

Der Himmel ist inzwischen grau bedeckt. Es kommt ein stürmischer Wind auf, der Kevins Haar fliegen lässt. Da braut sich allmählich was zusammen. Als wir am Eingang des Neuköllner Hinterhofhauses ankommen, beginnt es zu regnen. In der Ferne hört man es bereits leise donnern. Die schmutzigen Vorhänge im Erdgeschoss sind zugezogen, wie so oft. Kevin macht eine finstere Miene. „Kannst du nicht doch mitkommen?“, bettelt er. „Bitte!“ „Unmöglich!“, sage ich, „Das weißt du.“ Kevin dreht sich weg und schlägt die Augen nieder, aber ich sehe, wie ihm die Tränen übers Gesicht laufen. Ich gebe mich geschlagen. „Alles klar, dann geh vor und check die Lage.“ Beinahe lautlos schiebt sich der Türschlüssel ins Schloss.

Dichter Zigarettenqualm und eine eisige Stimmung schlagen uns entgegen und jagen mir augenblicklich einen Schauer über den Rücken. „Zum Donnerwetter, wo warst du so lange?“ wettert eine Stimme aus dem Hinterzimmer. Kevin weicht einen Schritt zurück, und ich schiebe mich vor ihn, um ihm Deckung zu geben. Die Glotze läuft, Bild ohne Ton. Mutter sitzt benebelt vor der Mattscheibe und schaut nur einmal kurz auf. Vor ihr stehen zwei fast leere Flaschen Klarer. Früher hat sie noch als Blitzableiter fungiert, wenn wir aufeinanderprallten. Inzwischen ist sie dafür viel zu ausgebrannt. Der Alte wankt herein. Als er mich sieht, bleibt er wie vom Schlag getroffen stehen. „Was denn, du wagst dich noch hier her? Na warte, Bürschchen, dich werd‘ ich was lehren!“. Er zieht den ledernen Nietengürtel aus seiner Jeans und richtet sich baumhoch vor mir auf. Sein Atem bläst mir heiß ins Gesicht, während er mein Shirt hochzerrt und mich niederdrückt.

Draußen prasselt lautstark der Regen, und die Ahornzweige schlagen windgepeitscht gegen die Scheiben. Ich fühle nichts, absolut nichts. Für eine geraume Zeit vermag ich kaum noch klar zu denken, selbst als sich alles langsam wieder zu beruhigen scheint. Dann höre ich Kevin hinter mir weinen, und plötzlich steigt ein tiefer Groll aus meinem Inneren auf. Blitzschnell reiße ich Mutter die Flasche Küstennebel aus der Hand und sehe gerade noch eine brennende Zigarette vor meine Füße rollen, bevor unmittelbar daneben etwas Schwergewichtiges hart auf dem Boden aufschlägt.


Anmerkung von Irma:

Vierter Platz beim Putlitzer Preis 2019 der 42er Autoren zum Thema "Alle Wetter".

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Isaban (17.09.19)
Hallo Irmchen,

ein spannender, gut aufgebauter Text!
Mich stören einzig die beiden fast leeren Flaschen. Normalerweise wird eine leer getrunken, bevor die zweite geöffnet wird, ganz besonders bei Leuten, denen der Alkohol Lebensinhalt geworden ist, da bleibt kein Bodensüppel in der Flasche, bevor die nächste geköpft wird, insbesondere wenn es sich zweimal um die selbe Schnappssorte handelt.

Liebe Grüße
Sabine

 Irma meinte dazu am 17.09.19:
Also müsste ich nur noch das "fast" für dich killen, damit es für dich stimmig ist? Würde passen. LG Irma

 Isaban antwortete darauf am 17.09.19:
Jepp, passt.

 Reliwette schrieb daraufhin am 11.04.21:
O, Isaban, Du scheinst Dich ja gut mit Trinkgewohnheiten auszukennen, wer hätte das gedacht?
Auf dem Ofen im Wohnzimmer meiner Schwiegereltern stand ein Wasserkessel mit einer Beule. Diese Beule war Zeugnis eines Geschehens, das Irma in ihrer Geschichte so treffend geschildert hat. Grüße an beide! Hartmut
Cora (29)
(17.09.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Irma äußerte darauf am 18.09.19:
Danke liebe Cora, für deine intensive Beschäftigung mit meinem Text und das Reinfühlen. Schade, dass dir das nicht bis zum Schluss gelingen will.

Ja, die Geschichte ist ganz bewusst in "Echtzeit" geschrieben. Der größere Bruder hat auch immer nur eingesteckt, sich nie zur Wehr gesetzt. Er ist lieber auf die Straße geflüchtet, um sich dem nicht weiter auszusetzen.

"Er müsste doch irgendwas wütendes denken, wie "Alter es reicht, ich mach dich alle!" oder so, jedenfalls nicht so ausgefeilt reflektieren?"


In meinen Augen ist das kein ausgefeiltes Reflektieren, was er tut. Er fasst zu keinem Zeitpunkt den Entschluss einer Gegenwehr, sondern erträgt stillschweigend die Schläge. Erst das Weinen seines kleinen Bruders hinter ihm löst plötzlich etwas aus. Da ist kein geplanter Entschluss zuzuschlagen, sondern es ist eine Handlung im Affekt. Das habe ich versucht darzustellen.

LG und vielen Dank auch für die Glückwünsche, Irma.
Cora (29) ergänzte dazu am 18.09.19:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Irma meinte dazu am 18.09.19:
"Was den Putlitzer-Preis betrifft, sah ich mich auf der Seite um, das ist alles sehr ansprechend"

Na dann: Mitmachen. Einsendeschluss ist der 15.10. Vielleicht sehen wir uns dann nächstes Jahr in Putlitz? LG Irma

 LottaManguetti (17.09.19)
schmeiße die Kippe vor mir auf den Boden

"... vor mich auf den Boden" gefiele mir besser, weil sich dann die Bedeutung ändert.
Ich habe eine in der Hand und werfe sie vor mich hin. Anders nehme ich die vor mir und schmeiße sie hin.

Oder?

Ansonsten: ein guter Text. Danke fürs Veröffentlichen!

:*

Lotta

 Irma meinte dazu am 18.09.19:
Dankeschön liebe Lotta, damit hast du wahrscheinlich Recht. Werde den Text aber nicht mehr abändern, da er ja so wie er ist auch auf der Putlitzer Preis Homepage veröffentlicht wurde.

Trotzdem lieben Dank für Kompliment und doppelte Empfehlung. LG Irma

 Buchstabenkrieger (17.09.19)
Hallo Irma,

ein wunderbarer Text. Glückwunsch auch zur guten Platzierung.

Nur ein Tipp: Bei Wechsel der Sprecher und Perspektive werden normalerweise Zeilenumbrüche gemacht.
Beispiel:
Die schmutzigen Vorhänge im Erdgeschoss sind zugezogen, wie so oft. Kevin macht eine finstere Miene. „Kannst du nicht doch mitkommen?“, bettelt er. „Bitte!“
NEUE ZEILE „Unmöglich!“, sage ich, „Das weißt du.“
NEUE ZEILE Kevin dreht sich weg und schlägt die Augen nieder,

LG, Buchstabenkrieger

 Irma meinte dazu am 18.09.19:
Hallo Buchstabenkrieger, ja, das stimmt schon. Aber damit entstünden für mich eine Vielzahl von Absätzen, die ich nicht so gerne mache, weil ich lieber nach Sinn- oder Handlungsabschnitten gliedere. Trotzdem ganz lieben Dank für die Anregung, die Glückwünsche und natürlich die zwei Sternchen. LG Irma

 Dieter_Rotmund (17.09.19)
Zu klischeehaft-plakativ ist die Namenswahl ("Kevin"). Insgesamt etwas zu viel vorgekaut und etwas zu viele Adjektive, die den Leser entmündigen. Geschichte hat Potential, müsste aber noch viel daran gemacht werden. Wie viel Konkurrenz gabs den bei diesem Puttlitzer Preis?

 LottaManguetti meinte dazu am 17.09.19:
37 Texte, Dieter. Du warst nicht dabei?

Geschichte hat Potenzial
Geschichte oder diese/die Geschichte?

Lotta

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 18.09.19:
Diese Geschichte.

 Irma meinte dazu am 18.09.19:
Liebe Lotta, die 37 Texte sind die von der Shortlist, aus der dann 6 Siegertexte ausgewählt wurden. Die Anzahl der Einsendungen ist natürlich weit höher (einige Hundert).

Lieber Dieter, wenn du dir ein genaueres Bild vom Putlitzer Preis machen willst, empfehle ich dir die Homepage. Und die Teilnahme am Putlitzer Preis 2020 (Einsendeschluss 15.10., nicht, wie hier bei den auf der KV-Seite angekündigten Wettbewerben steht, 10.10.)

Ich hätte dem kleinen Bruder natürlich jeden Namen geben können. (Hätte dir Dieter besser gefallen?). Aber ich habe ganz bewusst Kevin gewählt. So wie ich den Namen des älteren Bruders ganz bewusst ungenannt gelassen habe.

Bin gespannt, ob wir uns nächstes Jahr in Putlitz treffen. Dank und Gruß, Irma.

 TassoTuwas (17.09.19)
Es ist nicht leicht Tristes so zu beschreiben. dass man danach leichten Herzens sagen kann, "schön".
Sag ich also, eine hautnah gelungene Schilderung aus dem Milieu!
Liebe Grüße
TT

 Irma meinte dazu am 18.09.19:
Dankeschön, lieber Tasso, ich freue mich sehr über dein Gefallen an meiner Geschichte. und natürlich auch über die Empfehlung. Liebe Grüße, Irma.

 linkeln (29.08.22, 08:28)
Hallo Irma,
Dein Text nimmt mich leider nicht mit. Der Text ist zu eindeutig, es bleibt für den Leser nicht mehr so viel zu tun. Er gleitet leicht in den Sozialkitsch. Vielleicht wäre es besser bei den beiden Jungen zu bleiben.
Gruss
linkeln
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram