Lebenslauf

Erörterung zum Thema Identität

von  Oreste

Als Baby war ich der Traum aller Eltern;
nie geschrien, nie gefiebert, nie durch die Windel geschissen.
Auch als Kleinkind war ich wirklich pflegeleicht;
kein Schmutz, kein Gequengel, nicht ein Widerwort.

Meine Schulzeit war geprägt von auffallender Unauffälligkeit.
Zwar stand in jedem Zeugnis der Vermerk:
„XY wirkte des Öfteren geistesabwesend.“ –
meine Mitschüler aber fanden mich durch die Bank: nett.

Das erste Mal? Stimmbruch? Fuck it all? Fehlanzeige.
Überhaupt war ich Zeit meines Lebens
mehr so der stille Typ, der unscheinbare, ja
um nicht zu sagen unsichtbare. Nicht selten kam es vor,
dass mich Leute auf offener Straße
über den Haufen rannten. Einfach so, als sei ich Luft.

Später im Beruf war ich stets sehr beliebt
bei den Kollegen. Zu meinem 25jährigen
schenkten sie mir ein Shirt mit der Aufschrift:
„Everybody’s Darling“ (Und keine Spur von Ironie.)

Meinen Lebensabend verbrachte ich allein.
Ich entdeckte meine Leidenschaft fürs Sammeln
von Rundem und Glattem. Das Prunkstück meiner Sammlung
bildete eine doppelt entspiegelte Kristallkugel.

Alle kamen sie blendend mit mir aus.
Niemandem fiel ich je zur Last.
Niemandem, bis auf …
ja richtig. Meiner Mutter. Ein einziges Mal.
Während des Bügelns hatte sie mal erwähnt,
ich sei als Totgeburt zur Welt gekommen

– muss ein harter Tag für sie gewesen sein.


Anmerkung von Oreste:

2014 [überarbeitet]

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Kommentare zu diesem Text


 tulpenrot (15.11.19)
Wenn es bei diesem einzigen harten Tag geblieben ist, dann ist doch gut -oder?
Bei längerem Nachdenken jedoch könnte mir noch so einiges einfallen, was sie - die Mutter - dann in den folgenden Jahrzehnten noch so glatt bügeln wollte. So vermeintlich Krauses, das in ihrem Kopf rumgespensterte. Spätwirkungen des harten Tages, würde ich sagen. So als Quasi-entschuldgung.. Ich kenne so eine Mutter ...

Kommentar geändert am 15.11.2019 um 07:36 Uhr

 Oreste meinte dazu am 17.11.19:
Glattbügeln, oh ja.

Ein Kommentar, der mir Freude bereitet. Dafür danke ich dir sehr!


Lieben Gruß
O.

 EkkehartMittelberg (15.11.19)
Um so beliebt zu sein, muss man schon tot geboren werden.
Servus
Ekki

 Oreste antwortete darauf am 17.11.19:
Sich beliebt zu machen ist nicht schwer. Meine Erfahrung.

Grüß dich, Ekki.
O.

 Isaban (15.11.19)
Jemand, der nie gelebt hat, der nie aus sich herausging, nie eigene Emotionen zeigte, der nie zu Himmel hoch jauchzend oder zu Tode betrübt war, sich nie Hals über KOpf verliebte, nie Unsinn machte, niemals laut wurde, nie ein richtiges eigenes Leben hatte. Die Mutter hat eine verdammt harte Kritik angebracht - aber im Grunde hatte sie recht: Das LI hat sein Leben lang nur im Schatten gestanden, hat keine Ecken und Kanten, mag nur alles Glatte und Runde - ein Kiesel unter Kieseln, mit der Betonung auf "unter". Kein Kiesel, der jemals über Wasser gehüpft ist.

Liebe Grüße
auch an deine Süße

Sabine


PS: Ich glaube "Dead man walking" hätte als Titel auch gepasst.

Kommentar geändert am 15.11.2019 um 11:58 Uhr

 Oreste schrieb daraufhin am 17.11.19:
"Dead man walking" wäre ein geiler Titel. Problem: Er nähme die Pointe vorweg. Schade!

Vielen Dank für diesen tollen Kommentar, Sabine!


Grüß dich lieb
O.

 BeBa (15.11.19)
Ein Leben lang Totgeburt - kein leichtes Schicksal.

LG
BeBa

 Oreste äußerte darauf am 20.11.19:
So. (-;

Danke dir!
O.
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