Stories #5: Im Herbst

Essay zum Thema Literatur

von  Graeculus

Im Herbst
(1883)

Anton P. Tschechow (1860 – 1904), bekannt vor allem für seine noch heute gespielten Theaterstücke, hat auch eine Vielzahl von Erzählungen und Kurzgeschichten verfaßt, wohl an die 2400 Seiten. Eine von ihnen ist mir seit meiner Jugend ganz besonders in Erinnerung geblieben: „Im Herbst“. Es ist ein Dreiundzwanzigjähriger, der sie geschrieben hat, aber offenbar ein sehr alter junger Mann.

Die Geschichte spielt in irgendeinem Dorf des zaristischen Rußland. Wir befinden uns in einer von Kutschern und Pilgern frequentierten Kneipe. Die Stimmung ist gelangweilt; gelegentlich spielt einer der Kutscher auf einer naß gewordenen Ziehharmonika. Und erst das Wetter draußen!
Über der Tür, um die trübe, verschmierte Laterne herum, tanzten Regentropfen. Der Wind heulte wie ein Wolf, er heulte und pfiff und mühte sich sichtlich, die Tür der Schenke aus den Angeln zu reißen. Vom Hof her hörte man die Pferde schnaufen und im Schmutz herumpatschen. Es war feucht und kalt.
Da erwartet man nichts Gutes. Es passiert auch nichts Gutes. Es passiert überhaupt nicht viel. Das ist auffallend an dieser Geschichte, daß sie im Grunde genommen eher die Schilderung einer Szenerie ist als eine Darstellung von Ereignissen.
Tschechow beschreibt uns den Wirt hinter der Theke, Onkel Tichon, vor dem ein etwa vierzigjähriger Mann steht, schmutzig und mehr als billig gekleidet, ausgemergelt und fiebrig – „dennoch wirkte er intelligent“. Einen Spitzbuben nennt er ihn.
„Gib mir um Christi willen“, bat er Tichon mit gebrochener, klirrender Tenorstimme. „Ein Gläschen ... so ein kleines nur. Auf Pump!“

Der Leser ahnt, daß es sich um einen heruntergekommenen Alkoholiker handelt, und damit liegt er ganz richtig. Die ohne das erforderliche Kleingeld vorgetragene Bitte um ein Gläschen Wodka kommt bei Onkel Tichon nicht gut an. Ein Streit mit wechselseitigen Beschuldigungen entsteht, wobei sich der Bittsteller darauf beruft, daß nicht er es ist, der bittet, sondern seine Krankheit. Er könne dem Wirt nichts als Gegenleistung anbieten, denn den Mantel trage er bereits auf der bloßen Haut. Auch die an die Pilger gerichtete Bitte um eine Spende läuft ins Leere.
Schließlich kommt dem Mann ein letzter Einfall: Er holt ein kleines goldenes Medaillon hervor, das er an der Brust trägt, und wirft einen Abschiedsblick auf das darin enthaltene Porträt.
Ich müßte das Bild herausnehmen, aber ich weiß nicht, wo ich es lassen soll, ich bin ganz naß. In Teufels Namen, raub es mir mit dem Bild. Nur unter einer Bedingung ... Mein Lieber, mein Guter, ich bitte dich ... Du darfst dieses Gesicht nicht mit den Fingern berühren ... Ich flehe dich an, mein Lieber! Verzeih mir bitte die Grobheiten, daß ich in grobem Ton mit dir gesprochen habe ... Ich bin dumm ... Berühr das Gesicht nicht mit den Fingern und schau es nicht mit deinen Augen an ...
Auf dieses weinerliche Angebot hin, hinter dem wir ein tiefes Gefühl ahnen, gibt ihm der Wirt den erflehten Wodka. Später bittet der Trinker ihn darum, noch einmal einen kurzen Blick auf das Bild im Medaillon werfen zu dürfen.
Nachdem der Herr fünf Gläser getrunken hatte, verzog er sich in die Ecke, öffnete das Medaillon und suchte mit seinen trunkenen verquollenen Augen das teure Gesicht ... Aber das Gesicht war nicht mehr da ... Die Finger des tugendhaften Tichon hatten es aus dem Medaillon herausgerissen.
Damit ist die „Geschichte“ beendet, und Tschechow beschließt sie mit den Worten:
Der Regen strömte und strömte ... Die Kälte wurde immer grimmiger, und es schien, als würde dieser häßliche, dunkle Herbst nie ein Ende nehmen. Der Herr verschlang das Medaillon mit den Augen und suchte immer noch das Frauengesicht ... Die Kerze verlosch.
Frühling, wo bist du?
Wie aber ist aus dem anfangs erwähnten „Spitzbuben“ gegen Ende ein „Herr“ geworden? Vor der letzten Szene, nachdem der Wirt das erste Gläschen rübergeschoben hatte, war ein Bauer als neuer Gast in die Kneipe gekommen, und der hatte den Mann auf den ersten Blick erkannt:
„Da schau her! Der Herr“, sagte er. „Semjon Sergejitsch! Meine Herrschaft! Was? Wie kommen Sie denn dazu, in dieser Kneipe herumzusitzen? Ist denn das ein Ort für Sie? Ach ... ein unglücklicher Märtyrer!“
Der Bauer hat in dem hoffnungslosen Säufer seinen Grundherrn erkannt. Er weiß um dessen Lebenslauf. Ein wohlhabender und großzügiger Mann war er gewesen, der sich unglücklicherweise „in eine Städtische“ verliebt hatte, eine Marja Jegorowna. Sie stimmt, mit Blick auf sein Vermögen, seinem Antrag zu, sie beschließen zu heiraten, „und Senja läuft wie ein Besessener herum und prahlt mit seinem Glück, der Narr“. Noch am Abend der Hochzeit hat sie ihn mit ihrem Liebhaber verlassen. Zu diesem Unglück kam dann noch eine Sache mit seinem Schwager hinzu, dem Mann seiner Schwester. Für den hat er mit 30000 Rubeln bei der Bank gebürgt, was der Schwager kalt ausgenutzt hat. Der ehemals fröhliche Gutsherr war zweifach ruiniert.

Nun kennen wir den Hintergrund und begreifen die ganze Szene.

Allerdings wäre diese Geschichte, bezogen auf unsere lieben Mitmenschen, nicht vollständig, wenn der Trinker nicht auch noch von den Gästen die kleinste gängige Münze, gute Ratschläge und leuchtende Vorbilder nämlich, zugesteckt bekäme:
So eine Kleinmütigkeit! Jeder Mensch hat seinen Kummer, muß er deshalb gleich trinken? Seht euch beispielsweise unseren Dorfältesten an. Seine Frau bringt am hellichten Tage einen Lehrer ins Haus geschleppt und schmeißt das Geld ihres Mannes für Trinkereien raus, aber der Dorfälteste läuft herum und lächelt. Nur seine Wangen sind ein bißchen eingefallen ...
Na bitte! Man kann es schaffen und trotz allem lächeln. Nur die Wangen ...

In lakonischer Weise, auf wenigen Seiten führt uns Tschechow ein gescheitertes Leben von seinem Ende her vor Augen, und nicht zuletzt bewundere ich ihn dafür, daß er sich jeder Bewertung enthält und diejenigen, die so rücksichtsvoll nicht sind, mit sanfter Ironie darstellt.

Ich habe die folgende, ziemlich alte Ausgabe benutzt: Anton Tschechow, „Kurzgeschichten und frühe Erzählungen 1883-1887“, München 1968. Hier kann man die Geschichte vorgelesen hören: https://www.bitchute.com/video/TaBlT48JJn11/

Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

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Kommentare zu diesem Text


 GastIltis (14.12.19)
Hallo Graecu,
es ist immer wieder erstaunlich, dass Erzählungen über die Schicksale einfacher Leute, hier mit Einschränkungen, im zaristischen Russland so faszinierend sein können. Wenn ich deine Zeilen lese, verfalle ich fast der Versuchung, mich der Meistererzählungen oder der Werke der anderen großen russischen Schriftsteller anzunehmen, alles andere stehen und liegen zu lassen und einfach nur zu lesen. Dass du sie, die Zeilen, so gekonnt anbietest, steht für mich außer Frage. War mir sozusagen ein Vergnügen.
Herzlich Gil.

 Graeculus meinte dazu am 14.12.19:
Dieser Essay war bereits geschrieben, als ich mich gestern mit einem Exil-Syrer unterhalten habe, der gerade Tschechow aus dem Russischen ins Arabische übersetzt. Wir haben uns beinahe in den Armen gelegen vor Begeisterung über Tschechow.

Der Syrer meinte übrigens, Tschechow habe die Kurzgeschichte dem Roman vorgezogen, weil es einfacher sei, 100 m als den Marathon zu laufen.
Ja, das mag einfacher sein - aber die 100 m in 9,8 sek. zu laufen, ist es nicht!

 GastIltis antwortete darauf am 14.12.19:
Übrigens habe ich mich hinreißen lassen und schon fünf Erzählungen gelesen. Wem habe ich das zu verdanken?

 Graeculus schrieb daraufhin am 14.12.19:
Du, das freut mich riesig! Das ist der schönste Erfolg.

 EkkehartMittelberg (14.12.19)
Russische Erzähler sind Meister darin, Menschen auf der untersten sozialen Stufe in ihrem Leid zu schildern. Es ist gut, dass du auch einen Typ der Kurzgeschichte vorstellst, in dem äußerlich wenig passiert.. Die Meisterschaft des Erzählers besteht hier darin, die Tragik des herunter gekommen Gutsherrn zu beschreiben. Es wird jetzt schon sichtbar, dass du ganz unterschiedliche Varianten von Kurzgeschichten präsentierst.
LG
Ekki

 Graeculus äußerte darauf am 14.12.19:
Du drückst es gut aus. Russische Erzähler können gut das Elend, die Trauer, das Scheitern darstellen.

Übrigens gibt es auch bei Dostojewskij (ich meine, es ist in den "Brüdern Karamasow") eine solche Szene, in der eine Frau ihren Mann, der sie über alles liebt, in der Hochzeitsnacht verläßt. Auch sie heißt Marja, und zwar Schatow, wenn ich mich nicht irre.
Auch wenn das in einen Roman eingebettet ist, mag es eine 'typisch russische' Konstellation sein.

 TassoTuwas (14.12.19)
"Action" alleine, denke ich, macht noch keine gute Erzählung.
In diesem Falle stellt sich doch von Anfang an die Frage, welches Geheimnis rankt sich um diese abgerissene Gestalt und wird es gelüftet. Das ist allemal ein Grund bis zum Ende zu lesen.
Aus heutiger Sicht finde ich den Blick auf die gesellschaftlichen Zustände im zaristischen Russland interessant.
TT

 Graeculus ergänzte dazu am 14.12.19:
Das ist es, und ich meine sogar, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland immer interessant sind - wenn auch im Sinne des chinesischen Fluches "Mögest du in interessanten Zeiten leben".

Habe eine Schwäche für russische Literatur.

 TrekanBelluvitsh (15.12.19)
Ich sage es mal so: Der Herr hat wenigstens einen Grund, warum er säuft...

 Graeculus meinte dazu am 15.12.19:
Man kann auch sagen: Ich trinke, weil ich lebe. Ich lebe, also trinke ich.
(Ist das der Grund, weshalb es keine Kultur ohne Drogen gibt?)
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